© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/10 05. Februar 2010

Der fehlgesteuerte Sozialstaat
Neue Diskussion um Hartz IV: Der ungelöste Konflikt zwischen Lohnabstandsgebot und staatlichen Leistungen zur Kinder- und Familienförderung
Michael Paulwitz

Eisige Ablehnung erntete der hessische CDU-Ministerpräsident Roland Koch für seinen eher allgemein gehaltenen Hinweis auf die „Perversion des Sozialstaatsgedankens“ – daß „Millionen, die hart arbeiten, sehen, daß sie ohne eigene Anstrengung folgenlos annähernd das Gleiche verdienen könnten wie diejenigen, die das System ausnutzen“. Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen widersprach Kochs Forderung nach einer Arbeitspflicht für Arbeitslosengeld-II-Empfänger – Sanktionen für Arbeitsverweigerer gebe es bereits. Statt dessen meinte die CDU-Politikerin, es sei „ein absolut wünschenswertes Ziel, daß auf die Dauer das Wort Hartz IV verschwindet“. Vor dem kommenden Dienstag erwarteten Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Regelsätzen der „Grundsicherung für Arbeitssuchende“ ist die Debatte um die Zukunft des Sozialstaats nun mit voller Härte entbrannt.

Im Jahr 2008 gab der Bund für Arbeit und Soziales 124 Milliarden Euro aus. In diesem Jahr werden es laut Finanzplan bereits 153 Milliarden Euro sein. Deutschland lebt nicht erst seit den milliardenschweren Rettungspaketen für Pleitebanken auf Pump. Auch schon vor der Weltwirtschafts- und Finanzkrise lebten der Bund, fast alle Länder und die meisten Gemeinden über ihre Verhältnisse. Die kontinuierlich steigenden Sozialausgaben sind eine wesentliche Ursache für den wachsenden Kreditbedarf der öffentlichen Hand. 2008 zahlte der Bund 21 Milliarden Euro allein für das Arbeitslosengeld II. Das war nach dem Zuschuß für die Gesetzliche Rentenversicherung (78,5 Milliarden Euro) der zweitgrößte Posten (17 Prozent) des Etats für Arbeit und Soziales.

Insgesamt sind im Haushalt 2010 bislang 26,2 Milliarden Euro für das Arbeitslosengeld II eingeplant. Für die gesamte „Grundsicherung für Arbeitssuchende“ sind 41,1 Milliarden Euro vorgesehen. Sollte das Bundesverfassungsgericht eine Erhöhung oder Angleichung des Hartz-IV-Regelsatzes für Kinder verlangen, dann könnten weitere Milliarden fällig werden. Linkspartei und Sozialverbände fordern seit Jahren eine Anhebung der Regelsätze von bisher 359 auf 420 Euro.

Mit den rot-grünen Hartz-Reformen wurde der Sozialstaat ab 2005 nicht ab-, sondern insgesamt ausgebaut. Speziell frühere Empfänger von Sozialhilfe wurden dadurch bessergestellt. Verlierer waren die bisherigen Bezieher von Arbeitslosenhilfe, die auch als langjährige Steuer- und Beitragszahler nach einem Jahr Arbeitslosigkeit rasch auf eine Stufe mit jenen gestellt werden, die nie einen Beitrag zum Solidarsystem geleistet haben. Die Einlassungen Kochs haben nun den Blick auf die augenfälligste Fehlsteuerung gelenkt: die inzwischen quasi systemimmanente Verletzung des Lohnabstandsgebots, das dem Staat aufgibt, Transferleistungen erkennbar unter dem Arbeitseinkommen in unteren Lohngruppen zu halten.

Ein verheirateter Beschäftigter im Einzelhandel mit zwei Kindern erhält beispielsweise einen Nettolohn 1.353,55 Euro. Hinzu kommen Kindergeld (368 Euro) und eine Hartz-IV-Aufstockung für Niedrigverdiener von 218,45 Euro – das ergibt ein Haushaltseinkommen von 1.940 Euro. Als Hartz-IV-Bezieher käme sein Haushalt (die Regelsätze für alle Familienmitglieder plus Miet- und Heizkostenerstattung zusammengenommen) nur auf etwa 300 Euro weniger. Manche kommen da ins Grübeln, ob das Aufstehen morgens noch lohnt. Etwa 6,5 Millionen Arbeitnehmer, so schätzt die Wirtschaftswoche, arbeiten in Deutschland für Stundenlöhne unter 9,62 Euro im Westen bzw. 7,18 Euro in Mitteldeutschland. Sie verdienen damit knapp mehr oder sogar weniger, als sie mit Arbeitslosengeld II erhalten würden. 1,3 Millionen (ein Fünftel der ALG-II-Bezieher) von ihnen erhalten deshalb zusätzlich Hartz IV-Leistungen.

Natürlich würde auch ein Großteil der Hartz-IV-Empfänger am liebsten wieder arbeiten. Knapp fünf Millionen sind es bundesweit, weitere 1,8 Millionen leben mit ihnen in „Bedarfsgemeinschaften“ ebenfalls von Hartz-IV-Leistungen. Die Zahlen sind in den fünf Jahren seit Inkrafttreten der Hartz-Gesetze kaum gesunken.

Wie hoch der Anteil an Arbeitsunwilligen ist, die sich auf Kosten der Allgemeinheit in Hartz IV eingerichtet haben und mit staatlicher Grundsicherung, den vielfältigen Vergünstigungen und Ermäßigungen vor allem in den Städten und dazu vielleicht noch schwarzen oder illegalen Nebeneinnahmen ihr Auskommen finden, kann nur gemutmaßt werden. Laut aktuellen Angaben der Bundesagentur für Arbeit (BA) ist die Zahl der Straf- und Bußgeldverfahren gegen Hartz-IV-Empfänger im vergangenen Jahr um 1,8 Prozent auf knapp 165.000 Fälle gestiegen. Insgesamt errechnete die BA eine Mißbrauchsquote von 1,9 Prozent. Roland Koch schätzt die „schwarzen Schafe“ aber auf zwischen zehn und fünfzehn Prozent – das sei zumindest der Anteil derer, die in Hessen ihren Antrag zurückzögen, wenn der Druck zur ernsthaften Arbeitssuche erhöht werde.

In Städten wie Berlin (mit über 21 Prozent offen oder verdeckt Arbeitslosen) ist eine effektive Mißbrauchskontrolle zudem faktisch gar nicht mehr möglich. Jeder sechste Hauptstädter und ein Drittel der Kinder leben von Hartz IV, die Versorgung der durch 5.500 „Jobcenter“-Mitarbeiter verwalteten 590.000 Arbeitslosengeldbezieher kostet monatlich etwa 285 Millionen Euro.

In Berliner Problemstadtteilen wie Nord-Neukölln leben derzeit drei Viertel der Einwohner unterhalb der 700-Euro-Armutsgrenze, zwei von drei unter 25jährigen bestreiten den Lebensunterhalt mit staatlichen Leistungen. Hier offenbaren sich vor allem die Folgen der Einwanderung in die Sozialsysteme: Während zwischen 1970 und 2003 die Zahl der Ausländer in Deutschland von drei auf 7,3 Millionen stieg, blieb die Zahl der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Zuwanderer mit 1,8 Millionen nahezu gleich. 23 Prozent der ALG-II-Empfänger sind Ausländer.

Ebenfalls krasse Fehlanreize setzt der Sozialstaat nach einer Studie des Instituts für Weltwirtschaft (IfW) aber auch bei den „Hätschelkindern der Nation“ (FAS) – den etwa 1,6 Millionen Alleinerziehenden, die zu 95 Prozent Frauen sind. Etwa 40 Prozent von ihnen leben von Sozialleistungen. Alleinerziehende „Bedarfsgemeinschaften“ (so der Begriff im Sozialgesetzbuch) stehen beim Hartz-IV-Bezug einsam an der Spitze aller Bevölkerungsgruppen. Zugleich ist ihre Zahl in Deutschland viermal so schnell gewachsen wie im Durchschnitt aller OECD-Länder.

Auch hierfür liegt ein entscheidender Grund im Hartz-IV-System: Alleinerziehende haben Anspruch auf zusätzliche Kinderzuschläge von 36 bzw. 12 Prozent des Regelsatzes je Kind, die sich auf bis zu 60 Prozent aufsummieren lassen. Eine alleinerziehende Mutter mit zwei kleinen Kindern hätte mit einigen Wochenstunden Arbeit auf 400-Euro-Basis 1.660 Euro monatlich zur Verfügung, eine vergleichbare reguläre Arbeitsstelle brächte ihr nur 1.500 Euro, heißt es in der noch unveröffentlichten Studie. Das lädt nicht nur zum Mauscheln. Der Präsident des Münchner Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, kritisiert sogar, die staatliche Unterstützung nehme „den Charakter einer Trennungsprämie“ an. Um eine erwerbslose Alleinerziehende zu alimentieren, ist in etwa die Steuerleistung von zwei arbeitenden Frauen notwendig.

Hartz IV schafft damit auch keine Anreize für Alleinerziehende zur Rückkehr in Partnerschaft oder Beruf. Laut BA verbleiben Alleinerziehende deutlich länger im Hartz-IV-System als etwa Alleinstehende oder Paare mit Kindern. 30 Monate nach Einstieg in den Bezug seien bei den letztgenannten Gruppen nur noch rund 30 Prozent im Leistungsbezug, bei Alleinerziehenden fast die Hälfte.

Foto: Hartz-IV-Empfängerin mit Kindern: Alleinerziehende haben Anspruch auf Kinderzuschläge von 36 bzw. 12 Prozent des Hartz IV-Regelsatzes

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