© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/10 05. Februar 2010

Lebensversicherung Familie
Gemeinwohl: Die Debatte um die Zukunft des deutschen Sozialstaats bleibt an der Oberfläche
Jürgen Liminski

Am kommenden Dienstag wird das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe sein Hartz-IV-Urteil verkünden. Es wird die Debatte um den Sozialstaat beleben. Der Sozialhaushalt ist der größte Brocken im defizitären Budget, und nach der Wahl in Nord­rhein-Westfalen wird es ans Sparen gehen. Da werden die Blicke vor allem auf die Fettpolster des Sozialstaats fallen. Aber die gierigen Blicke sehen allenfalls die Oberfläche, die Politik doktert nur am schwächelnden Sozialstaat herum.

Dabei gehört die soziale Sicherheit zur Staatsräson moderner Gemeinwesen. Sie ist integraler Bestandteil staatlicher Souveränität. Wer seinen Bürgern keinen existentiellen Schutz bietet und die Solidarität nur in guten Zeiten, also in Zeiten des Überflusses übt, der zerstört in Zeiten der Krise das Gemeinwesen. Jean Bodin, einer der ersten denkerischen Begründer der abendländischen Rechts- und Staatsphilosophie, formulierte in seinem Hauptwerk vor rund 450 Jahren, der Zweck des Staates sei „in erster Linie die Sicherung der schlichten sozialen Existenz, die Sicherung von Leib, Leben, Freiheit und Eigentum also“. Der Staat solle nicht nur das Gegenmodell zur Räuberhöhle sein, sondern die „Voraussetzung einer glückseligen Existenz“ sichern. Es ging nicht um die Glückseligkeit von Apothekern, Hotelbesitzern, Alleinerziehenden oder einer anderen sozialen Gruppe. Bodin meinte das Gemeinwohl, das bonum comune.

Die moderne Definition dieser Gedanken findet sich im Sozialstaatsprinzip des Artikels 20, Abs. 1 GG. Es verpflichtet den deutschen Staat, seinen Bürgern ein Existenzminimum als Grundlage für ein menschenwürdiges Dasein zu sichern. Die Sozialleistungen sollen nicht nur deren physisches Überleben garantieren, sondern auch ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen („soziokulturelles Existenzminimum“). Über ein solches Existenzminimum müssen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht nur Transferleistungsempfänger, sondern alle Bürger frei verfügen können: Besteuert werden dürfen deshalb nur Einkünfte, die über dieses Existenzminimum hinausgehen. Konkret: Steuerlich zu verschonen ist auch der für die Versorgung und Erziehung von Kindern notwendige Bedarf.

Hier wird es willkürlich. Die Politik setzt den Existenzfreibetrag entgegen der Rechtsprechung tiefer fest. Das aber ist nicht nur eine Frage der Finanzen, sondern auch des Systems. In den Familien werden die Voraussetzungen geschaffen, von denen der Staat lebt, die er selber aber nicht schaffen kann (Böckenförde), zum Beispiel Gemeinsinn, Toleranz, Ehrlichkeit, Treue, Hilfsbereitschaft, Verantwortung. Es ist bezeichnend, daß – folgt man der wissenschaftlichen Literatur – „die Erzeugung solidarischen Verhaltens“ als ein Grund für den verfassungsrechtlichen Schutz der Familie genannt wird. Es sei eine Leistung, schreibt der Nestor der Familienpolitik, Heinz Lampert, die in der Familie „in einer auf andere Weise nicht erreichbaren Effektivität und Qualität“ erbracht werde. Benedikt XVI. formuliert es so: „Die Familie ist der Kern aller Sozialordnung.“

Diese Solidarität, dieser Gemeinsinn, die Toleranz, die Ehrlichkeit, die Verantwortungsbereitschaft und viele weitere soziale Tugenden gehen allmählich verloren, wenn die Familie diesen Schutz nicht erfährt. Ehe und Familie nutzen dem Staat. Nicht nur finanziell in Höhe von 77.000 Euro pro Kind bis zum Alter von 18 Jahren, die der Staat an jedem Kind verdient, wie das ifo-Institut für Wirtschaftsforschung ausgerechnet hat. Stabile Beziehungen senken auch die Risiken von Armut und Krankheit und erhöhen die Lebenserwartung und Lebenszufriedenheit, wie Forscher herausgefunden haben. Das kommt nicht nur den Partnern und Kindern, sondern auch der Allgemeinheit zugute. Diese positiven externen Effekte sind in etlichen Studien nachgewiesen, weshalb die Forscher auch von einem „kulturellen Kapital“ sprechen. Dieses Kapital stärkt die Sozialsysteme und die Wirtschaft. In Zeiten instabiler Renten und wachsender Risiken sind Ehe und Familie eine Lebensversicherung eigener Art. Sie schaffen einen Rahmen, einen Raum des Lebens, aus dem auch Stabilität für das Gemeinwesen erwächst.

Bei der Sozialstaatsdebatte geht es auch um dieses kulturelle Kapital. Es ist die Gegenleistung, die Familien erbringen, auch Hartz-IV-Familien. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit. Ob die Hartz-IV-Gesetze dem Anspruch genügen, das physische und soziokulturelle Existenzminimum von hilfsbedürftigen Familien zu gewährleisten, hat in der Tat das Bundesverfassungsgericht zu entscheiden. Daß die Arbeitsministerin schon mal verkündet, unter die jetzigen Sätze könne man nicht gehen, ist reine PR – so wie es reine PR war, ihren Parteifreund Roland Koch als „unsozial“ darzustellen. Koch hat nur vor einer Perversion des Sozialstaatsgedankens gewarnt. Das geschieht, wenn die Solidarität der Allgemeinheit ausgenutzt wird, weil keine Gegenleistung erfolgt oder wenn Hartz-IV-Empfänger dazu nicht bereit sind. Auch davor muß der Staat die ehrbaren Bürger schützen. „Wer sich einer angebotenen Arbeit verweigert, sollte sich auf ein bescheidenes Leben einrichten“, meint Koch – ein Satz, der auch auf das Lohnabstandsgebot zielt. Koch meint es ernst mit dem Doppelprinzip vom Fordern und Fördern, beides ist notwendig.

Diese Debatte aber findet in der Politik nicht statt. Es ist vor allem schwer nachzuvollziehen, warum der „Kern aller Sozialordnung“ und somit das systemrelevanteste Element unseres Gemeinwesens, die Familie, immer nur mit Restmengen stillgehalten wird, während die Finanzinstitute, die dazu beigetragen haben, daß die Generationen-Solidarität des Gemeinwesens durch Überschuldung zum Zerreißen gespannt wird, von der Politik in Deutschland gehätschelt werden. „Freundschaft gehört zum Nötigsten im Leben“, sagt schon Aristoteles. In der Familie hat sie ihr Zuhause. Davon lebt der Sozialstaat zuerst, nicht von flotten Sprüchen.

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