© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/10 29. Januar 2010

Resultate fataler Selbstüberschätzung
Der sowjetische Politologe Wjatscheslaw Daschitschew über die Ausweglosigkeit eines Krieges in Afghanistan einst und jetzt
Wjatscheslaw Daschitschew

Das leidgeprüfte Volk von Afghanistan wurde in seiner Geschichte blutigen Interventionen durch drei Großmächte ausgesetzt. Im 19. Jahrhundert und Anfang des 20. Jahrhunderts war es Großbritannien, das in drei Kriegen das afghanische Volk mit der Waffe zu unterwerfen versuchte. Daß die sowjetische Führung Ende Dezember 1979 die Invasion in Afghanistan begann, war der Gipfel außenpolitischer Dummheit und Verantwortungslosigkeit. Dieser unheilvolle Beschluß wurde in einem engen Kreis von Politbüromitgliedern (Generalsekretär der KPdSU Leonid Breschnew, Chefideologe Michael Suslow, Außenminister Andrej Gromyko, Verteidigungsminister Dmitrij Ustinow und KGB-Chef Jurij Andropow) gefaßt und trotz der Einwände des damaligen Generalstabschefs Nikolaj Ogarkow und seines Vize Sergej Achromejew durchgesetzt.

Diese Entscheidung war ein Resultat der fatalen Überschätzung eigener Möglichkeiten, der Unkenntnis nationaler, sozialer und geschichtlicher Besonderheiten der Entwicklung Afghanistans und der Nichtberücksichtigung einer äußerst negativen Reaktion des Westens und der islamischen Welt.

Ein weiterer Grund für diesen Einmarsch war, nach prahlerischen Aussagen von Zbigniew Brzeziński, der grauen Eminenz unter den amerikanischen Strategen, eine kunstvoll inszenierte Provokation des amerikanischen Geheimdienstes. Dieser habe die sowjetische Führung (KGB-Chef Andropow) irregeführt, indem ihr durch geheime Kanäle die angeblichen Pläne der amerikanischen Regierung zur militärischen Besetzung Afghanistans vorgetäuscht worden seien, um die Sowjets zu zwingen, den Amerikanern „zuvorzukommen“ und den sowjetischen Truppen „ein neues Vietnam“ auf afghanischem Boden zu bereiten.

Meine Einschätzung des für die Sowjetunion verderblichen Einmarsches in Afghanistan habe ich in dem für die sowjetische Führung bestimmten Gutachten „Einige Gedanken über die außenpolitische Bilanz der siebziger Jahre“ dargelegt. Als Leiter der internationalen Abteilung des Instituts für sozialistische Länder der Akademie der Wissenschaften war ich damals berufen, die Kreml-Führung über Probleme der Außenpolitik zu beraten.

Das Gutachten wurde am 20. Januar 1980 dem Zentralkomitee der KPdSU vorgelegt, also fünf Tage nach dem bekannten Appell Andrej Sacharows an die Weltöffentlichkeit, in dem er die sowjetische Intervention in Afghanistan scharf verurteilte. Für diesen Appell wurde Sacharow nach Nischni Nowgorod (damals Gorki) verbannt.

In der Gorbatschow-Zeit wurden die Auszüge aus meinem Gutachten, bezogen auf Afghanistan, in Moskau 1989 veröffentlicht (in der Literaturnaja Gazeta, 16. März 1989 sowie in den Moskowskije Nowosti, 23. Juli 1989). Es lohnt  sich, hier an sie nochmals zu erinnern, insbesondere in Hinblick auf den heutigen Afghanistan-Krieg.

In dem Gutachten hieß es: „Durch den Einmarsch der Truppen in Afghanistan überschritt unsere Politik zweifelsohne die zulässigen Grenzen der Ost-West-Konfrontation in der Dritten Welt. Die Vorteile dieses Unternehmens sind nichtig im Vergleich zu dessen Nachteilen:

- 1. Der UdSSR entstand – zusätzlich zu Spannungsfeldern in Europa gegen die Nato und in Ostasien gegen China – eine gefährliche dritte Front an der Südflanke des Landes unter ungünstigen geographischen und sozialpolitischen Verhältnissen. Hier werden wir es zu tun haben mit vereinten Ressourcen der USA, der Nato, Chinas sowie islamischer Länder und der aufständischen Armee der afghanischen feudal-klerikalen Kräfte, die das afghanische Volk unter stärkstem Einfluß halten. Zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg stehen wir vor der Perspektive eines möglichen lokalen Militärkonflikts, in dem wir – im Unterschied zum koreanischen, vietnamesischen und anderen – mit eigenen Truppen kämpfen müssen. Im Zusammenhang damit nimmt die Bedrohung einer militärischen Eskalation zu.

- 2. Es kam zu einer wesentlichen Erweiterung und Konsolidierung der antisowjetischen Staatenfront, die von West nach Ost die UdSSR umgibt.

- 3. Der Einfluß der UdSSR auf die Bewegung der Nichtpaktgebundenen, besonders auf die islamische Welt, hat entscheidend gelitten.

- 4. Die Entspannung ist blockiert, und die politischen Voraussetzungen für eine Rüstungsbegrenzung sind nicht mehr vorhanden.

- 5. Der wirtschaftliche und technologische Druck auf die Sowjetunion ist jäh gestiegen.

- 6. Die westliche und die chinesische Propaganda erhielten starke Trümpfe zur Erweiterung der Kampagne gegen die Sowjetunion zwecks Untergrabung ihres Prestiges in der Öffentlichkeit des Westens, der Dritten Welt sowie der sozialistischen Länder.

- 7. Die afghanischen Ereignisse machten, wie die in Kambodscha, für lange Zeit die Voraussetzungen für eine mögliche Normalisierung der sowjetisch-chinesischen Beziehungen zunichte.

- 8. Diese Ereignisse können ein Katalysator zur Überwindung der Krise in den Beziehungen zwischen dem Iran und den USA und für deren Aussöhnung sein.

- 9. Das Mißtrauen in die sowjetische Politik und die Distanzierung Jugoslawiens, Chinas und Rumäniens nahmen zu. Sogar in den Massenmedien Ungarns und Polens traten erstmals offen Anzeichen der Zurückhaltung im Zusammenhang mit den Handlungen der Sowjetunion in Afghanistan zutage. Darin drückten sich die Stimmung der Öffentlichkeit und die Befürchtungen der Führung dieser Länder aus, in die globalen Handlungen der Sowjetunion hineingezogen zu werden, woran unsere Partner wegen der Knappheit ihrer Ressourcen nicht teilnehmen können.

- 10. Die Differenzierungspolitik der Westmächte verstärkte sich. Sie gingen zu einer neuen Taktik über, aktiv in die Beziehungen der Sowjetunion zu sozialistischen Ländern einzugreifen und auf Gegensätze und unterschiedliche Interessen zwischen ihnen einzuwirken.

- 11. Der Sowjetunion wurde eine neue wirtschaftliche Last aufgebürdet. Die Eskalation der Konfrontation zwischen der Sowjetunion und den Westmächten sowie China in der Dritten Welt gefährdete gegen Ende der siebziger Jahre die wichtigsten Ergebnisse der Entspannungspolitik. Das weitere Anwachsen unserer militärpolitischen Offensive in der Dritten Welt wird der Westen mit einem immer stärkeren Abgleiten zum ‘kalten’ oder zum ‘halbheißen’ Krieg und mit einer Verstärkung des Drucks auf die Sowjetunion in allen Bereichen beantworten: im politischen, wirtschaftlichen, militär-strategischen und propagandistisch-psychologischen. Zu einer allmählichen Rückkehr zur Entspannungspolitik könnte die Einstellung unserer militärischen Aktivitäten in der Dritten Welt beitragen. Dabei muß man berücksichtigen, daß sich die Krisensituationen auf andere Regionen, insbesondere auf Osteuropa, ausweiten können.“

Die letzte Bemerkung war besonders wichtig im Hinblick auf die gesellschaftlichen Gärungsprozesse, die vor allem Polen erfaßten und sich auf andere Länder Osteuropas auszuweiten drohten. Statt die Kräfte und Aktivitäten auf die Verbesserung der wirtschaftlichen und geistig-psychologischen Lage in diesen Ländern und in der Sowjetunion zu konzentrieren, beschäftigte sich die Breschnew-Führung mit außenpolitischen Abenteuern und messianischen Unternehmen, die die Situation im eigenen ,,Hinterland“ auf gravierende Weise verschlechterten.

Afghanistan wird für die Nato zum „zweiten Vietnam“

Der große deutsche Philosoph Georg Hegel hat in seiner „Philosophie der Geschichte“ geschrieben, die Staatsmänner hätten immer versäumt, richtige Lehren aus der Geschichte zu ziehen, um entsprechend agieren zu können. Das Scheitern von drei englischen Kriegen in Afghanistan hat der sowjetischen Führung nichts gesagt. So mußte sie ihre afghanische Affäre mit einer schmählichen Niederlage bezahlen.

Es scheint, als ob es genügend Gründe gäbe, das freiheitsliebende, keine fremde Herrschaft duldende afghanische Volk in Ruhe zu lassen. Nein, die amerikanische Bush-Regierung hat „unheilbringende Erfahrungen“ anderer wiederum außer acht gelassen. Geopolitische und geowirtschaftliche Interessen und Ziele der US-Elite in dieser an Erdöl und Gas reichen Region haben ihre außenpolitische Vernunft verdunkelt.

Jetzt erhalten sie selbst in Afghanistan ihr „zweites Vietnam“, obwohl es ihnen gelang, zu diesem Krieg die Truppen von 42 Ländern heranzuziehen. Präsident Barack Obama versucht, aus diesem hoffnungslosen Krieg einen Ausweg zu finden, ohne das Gesicht zu verlieren. Das gleicht der Quadratur des Kreises.

 

Wjatscheslaw Iwanowitsch Daschitschew ist Politologe und Historiker. Er leitete bis 1990 die Abteilung für außenpolitische Probleme am Institut für internationale wirtschaftliche und politische Studien der Russischen Akademie der Wissenschaften. Nach 1991 nahm Daschitschew Gastprofessuren an den Universitäten Berlin (FU), München und Mannheim wahr.

Foto: Bilder aus fünf Afghanistan-Kriegen: „The Last Stand at Gundamuck“, Propagandabild aus dem ersten Britisch-Afghanischen Krieg 1842, Britische Kavallerieattacke in der Schlacht von Maiwand 1880 (Zweiter Afghanistan-Krieg), Sowjetische Mi-24 Kampfhubschrauber über Afghanistan 1980, Britische Gurkha-Truppen am Hindukusch im dritten Afghanistan-Krieg nach 1919, Special Forces der U. S. Army bei Kundus 2001 (v.l.n.r.)

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