© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/10 22. Januar 2010

Alles reimt sich auf Amerika
Axel Schildts und Detlef Siegfrieds ganz eigene Betrachtungen zur „Deutschen Kulturgeschichte“ nach 1945
Karlheinz Weissmann

Die wichtigste geschichtspolitische Entscheidung, die nach der Wiedervereinigung gefällt wurde, war die zugunsten der „Verwestlichung“ als Ziel der deutschen Nationalhistorie. Was es bis dahin an Vorbehalten gab, von links (wegen der USA als kapitalistischer Vormacht) oder rechts (wegen des kulturellen „Sonderbewußtseins“), wurde aufgegeben (links) oder obsolet (rechts). Deshalb opponiert heute kein Vertreter der bundesdeutschen Historiographie mehr gegen die Vorstellung, daß es für unsere Nation rundherum wohltuend war, „verwestlicht“, „westernisiert“ oder schlicht „amerikanisiert“ zu werden. Den daraus abgeleiteten Maßstab handhabt man mit großer Selbstverständlichkeit, Widerspruch oder Widerstand erwartet niemand.

Mit gutem Grund, wie man der allseits positiven Aufnahme der „Deutschen Kulturgeschichte“ von Axel Schildt und Detlef Siegfried entnehmen kann. Denn was dem Leser hier auf beinahe siebenhundert Seiten geboten wird, ist eine Darstellung der seit 1945 vollzogenen ideologischen, religiösen, künstlerischen und literarischen Entwicklungen, die stets danach beurteilt werden, ob sie dem Westlich-Werden dienlich waren oder nicht. Um es gleich zu sagen: Aus der Sicht von Schildt und Siegfried ist die Nachkriegs- eine Erfolgsgeschichte – weg von der problematischen Struktur eines postfaschistischen Gemeinwesens, hin zu einer modernen Zivilgesellschaft, die sich zu ihrem Besten auch mit der Multikulturalität abgefunden hat.

Dementsprechend findet die Darstellung der „Guten“ bei Schildt und Siegfried breiten Raum: der „Antifaschisten“ – unter Einschluß der Kommunisten, was vielleicht einer gewissen Nostalgie des Ex-Spartakisten Siegfried geschuldet ist– , der Linken überhaupt, der Progressiv-Liberalen, der Frankfurter Schule, der Gruppe ’47, Brechts, der Abstrakten, der Anhänger des Internationalen Stils, der Langhaarigen, der Pop-Kultur, der Achtundsechziger, der Grünen, der Frauen- und Friedensbewegten, der Anhänger deutscher Zweistaatlichkeit und dauernder Vergangenheitsbewältigung.

Dagegen kommen die „Bösen“ nur vor, wenn das aus pädagogischen Gründen unerläßlich scheint: als ewige Nazis oder Oberflächlich-Angepaßte, als Revanchisten und Vertriebene, als Spießer und Bild-Leser, als „autoritäre Charaktere“ und solche, deren Methoden der Terrorbekämpfung fallweise „hysterische“ Züge annahmen, bevor dann Helmut Kohl auch die „restaurativen“ Tendenzen ins Harmlose abbog.

Arnold Gehlen oder Hans Freyer werden sowenig ernst genommen wie „der schrullige Antiurbanismus des lederbehosten Martin Heidegger“, einem Schriftsteller wie Gerd Gaiser attestiert man Wirkung bloß, weil das die „hegemoniale Macht der konservativ ausgerichteten literarischen Sozietät“ in den fünfziger Jahren so wollte, die rechte Intelligenz findet sich en passant abgehandelt, ohne eine Andeutung von Verständnis für deren Lage und Motivation.

Eine so strikt manichäische Betrachtung läßt sich nur durchhalten, wenn man entscheidende Fakten, die eben auch in die Kulturgeschichte der Nachkriegszeit hineingehörten, marginalisiert oder verschweigt: die eigentliche Schwere des Zusammenbruchs und die machtpolitischen Absichten der Siegermächte, die diese auch mit Hilfe von Einflußnahme auf den kulturellen Sektor durchzusetzen suchten, die handfesten, vor allem materiellen Interessen der Linken beim Kampf um die Deutungsmacht, den instrumentellen Antifaschismus, die Zerstörung aller Abwehrkräfte gegen die Dekadenz und die desaströsen Folgen der „Fundamentalliberalisierung“ (Jürgen Habermas), die man nach 1968 im Bündnis mit der Konsumindustrie durchgesetzt hat: wachsende Kriminalität, Zerfall von Ehe und Familie, demographische Katastrophe, ethnische Fragmentierung, Wohlstandsverwahrlosung, Kollaps des Bildungssystems.

Nichts davon spielt irgendeine Rolle in dem Buch von Schildt und Siegfried. Das darf angesichts des Zustands der zünftigen Historiographie kaum verwundern, soll aber zuletzt den Blick auf einen Sachverhalt lenken, der erwähnt werden muß, gerade weil er so regelmäßig verschwiegen wird: die Tatsache nämlich, daß die, die sich wie die Autoren als „kritische“ Geister betrachten und immer wieder auf diejenigen Bezug nehmen, die vor ihnen zu den „Kritischen“ gehörten, vom Wesen der Kritik gar nichts verstanden haben, sondern eine Attitüde pflegen. Eine linke Attitüde, deren Charakter bloß deshalb nicht klar hervortritt, weil es eine andere als diese in der öffentlichen Wahrnehmung kaum mehr gibt. Das heißt aber nicht, daß sie alternativlos wäre, in Wirklichkeit fehlen bloß Macht und Möglichkeiten, eine solche Alternative zur Geltung zu bringen.

Axel Schildt, Detlef Siegfried: Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik – 1945 bis zur Gegenwart. Hanser Verlag, München 2009, gebunden, 696 Seiten, 24,90 Euro

Foto: „Cadillacs in Form der nackten liegenden Maja“, Skulptur von Wolf Vostell (1987) in Berlin-Halensee: Als gut werden Entwicklungen danach beurteilt, ob sie dem Westlich-Werden dienlich waren

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