© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/10 22. Januar 2010

Die zivilisierte Heiligkeit
Der kanadische Philosoph Charles Taylor erzählt die Geschichte der Säkularisierung von der frühen Neuzeit bis in die Gegenwart
Martin Konitzer

Die physischen Merkmale von Charles Taylors Werk sind eindrucksvoll : „dick wie die Bibel oder der Koran“ (FAZ), „Philosophie im Breitwandformat“ (SZ), „in jeder Hinsicht groß“ (taz). Folgt man der aquinatischen Formel, daß die Seele den  Körper formt (anima forma corporis), so läßt sich vom Format auf den Geist des Buches schließen: „Fülle“ .

Der kanadische Philosophiehistoriker Taylor erzählt auf 1.200 Seiten von der Menschwerdung Gottes und dem Verlust der Erinnerung daran als Verlust der Fülle in der Moderne. „Fülle“ in Taylors katholischem Verständnis meint Gotteserfahrung in mehrfacher Hinsicht: Menschwerdung und Opfertod Christi als Gottes Eingriff in die Geschichte, ritualisierter Nachvollzug und Aktualisierung dieses Opfers in der Messe, Mitleid als körperliches Erleben („gut feeling“) der Verbundenheit mit dem Nächsten, Erleuchtung als körperliche Erfahrung der Verbundenheit mit Gott. Säkularisierung ist für Taylor keine historische Entwicklung des Glaubensverlustes, sondern eine umkämpfte Grenzlinie zwischen Inkarnation als Modus der Fülle und Exkarnation (Verlust der körperlichen Glaubenserfahrung) in allen historischen Phasen nach Christi Geburt. Taylor will mehr Inkarnation und weniger Exkarnation auf dem Territorium der Moderne.

Folgende Schwierigkeiten stehen dem entgegen: der Doppelcharakter aller (auch christlicher) Rituale und die politische Verfaßtheit der Moderne. Bloße Wiederholung des Meßopfers ist kein Garant der Inkarnation, sondern kann zum Ritual in der negativen Bedeutung des Wortes werden. Die politische Verfaßtheit der Moderne, rationale Diesseitsorientierung, macht inkarnierende Transzendenzerfahrung generell schwieriger als in heidnischen Gesellschaften oder im exemplarisch angeführten Ancien Regime mit seiner Kultur der „zwei Körper des Königs“ (Kantorowicz), die eine übergreifende Ordnung der Inkarnation symbolisierte.

In struktureller Verkürzung konstruiert Taylor das Gegensatzpaar einer intakten Inkarnationsordnung des Ancien Regime („AR“) und inadäquaten modernen Versuchen zu deren Wiederbelebung mittels forcierter politischer Willensbildung („M“ für Mobilisierung). Diese Abschnitte gehören zu den luzidesten des Buches, weil Taylor hiermit die theologische Dynamik moderner Mobilmachung jeglicher Couleur berührt und auch Ernst Jünger in den Zeugenstand bittet. Weitergehend greift er mit dem Gegensatzpaar „AR/M“ eine von der Ethnologin Mary Douglas formulierte Gefahr für die inkarnierte religiöse Erfahrung auf. Douglas konnte zeigen, daß mit Verschwinden des katholischen Milieus („Group“) seit den sechziger Jahren in Irland und England allein durch die Mobilisierung religiöser Ambitionen als informelles Netzwerk („Grid“) sich die Exkarnation nicht aufhalten ließ. Vielmehr kam es zu religiösen Ersatzbildungen. Taylor übernimmt Douglas’ Kritik – seinerzeit als reaktionär-katholisch beschimpft –, wenn er Mobilisierte sagen läßt: „Ich bekämpfe die Umweltverschmutzung, deshalb bin ich rein.“

Taylor orientiert sich vielmehr an einer „Gemeinschaft der Heiligen“. Für diese als Zeugen der Inkarnation in der Moderne in Anspruch genommenen „Heiligen“ führt Taylor allerdings relativierend aus, daß er sie weniger als „perfekte Personen“ verstehe, sondern als Beispiele von „Reisen zu Gott“.

Dies sind Taylors „Heilige“: Vaclav Havel steht mit seiner Epiphanie während der Gefängnishaft für die Inkarnation als körperliche Entgrenzungserfahrung in Gott. In Ivan Illichs Leben, Schreiben und Sterben inkarniert sich für Taylor die Nächstenliebe als „gut feeling“. Charles Peguy widerstand der Versuchung der Mobilisierung („Tout commence en mystique et finit en politique“), sah sich als Teil einer transgenerationellen communio in Fleisch und Blut und wurde zur wesentlichen Inspiration der „nouvelle theologie“ des Zweiten Vaticanum.

 Mit der abschließenden Würdigung zentraler Kategorien des Lyrikers Gerald M. Hopkins, nämlich schöpferischer Spannung der Fülle („instress“) und vollendeter Form („inscape“), gibt Taylor einen selbstreferentiellen Hinweis. Denn göttlicher Logos inkarnierte sich von den Vätern bis zu Henri de Lubacs „Catholicisme“ laut Hans Urs von Balthasar stets als „umfassende Fülle und bestimmte Gestalt“ – instress und inscape. In dieser Tradition steht Taylors Werk.

Als Restproblem des Werks fällt der Umgang mit äußeren Hinderungs- und Förderungsfaktoren des Glaubens auf: Ist der Teufel lediglich kollektive Metapher der Bosheit aus magischer Vorzeit? „Gnade“ scheint in Taylors System so implizit, daß sie keinen Ort im Register hat. Auch damit bewegt sich Taylor im Horizont seiner Vordenker. Schließlich sahen sich die erwähnten Väter des Zweiten Vaticanum der Kritik ausgesetzt, sie verträten bei aller Propagierung der communio eine individualisierte Glaubensdynamik in um die Möglichkeit des Scheiterns – Eingriff des Teufels, Verlust der Gnade – reduzierter augustinischer Tradition.

Charles Taylor: Ein säkulares Zeitalter. Aus dem Englischen von Joachim Schulze. Suhrkamp 2009, Frankfurt am Main, 1.298 Seiten, gebunden, 68 Euro

Foto: Heiligenschein und Engelsflügel für den Hausgebrauch:  „Ich bekämpfe die Umweltverschmutzung, deshalb bin ich rein“

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