© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/10 22. Januar 2010

Neue Regeln für eine neue Zeit
Soziale Kontrolle: Warum wir mitten im Internet-Zeitalter konservative Werte brauchen
Thorsten Hinz

Frißt das Internet das Private auf – jene Sphäre also, wo das Individuum relativ frei ist von den Zwängen des öffentlichen Lebens? Mehrere Entwicklung scheinen diese Befürchtung zu nähren. Internet-Betreiber und Firmen erstellen aus den Bewegungen der Internet-Nutzer immer präzisere Persönlichkeitsprofile, die es ermöglichen, unter dem Deckmantel der Fürsorge ihr Konsum- und Freizeitverhalten noch treffsicherer zu manipulieren.

Die Kontrollwut des Staates über die individuellen Internet-Daten wird gleichfalls immer größer. Schließlich geben manche Nutzer in Kontakt- und Partnerschaftsbörsen und sozialen Netzwerken die Trennung zwischen dem privaten und öffentlichen Bereich selber auf, indem sie intimste Informationen über sich preisgeben.

Facebook-Gründer Mark Zuckerberg, hieß es vergangene Woche alarmierend, hätte die Privatsphäre sogar für obsolet erklärt, um die Erleichterung im Zugang zu den Kundendaten seiner Plattform zu begründen. Im Original klang seine Aussage weniger schroff. Der Begriff des Privaten, so der erst 26jährige Programmierer und Internet-Unternehmer, habe sich in den vergangenen fünf bis sechs Jahren verändert. Das Teilen und Veröffentlichen auch von privaten Informationen in Weblogs und sozialen Netzwerken sei für Menschen normal geworden. Die sozialen Normen hätten sich weiterentwickelt und Facebook passe seine Regeln nun an. Zuckerberg: „Wir sehen es als unsere Rolle, uns ständig zu erneuern und unser System ständig zu aktualisieren, um die aktuellen sozialen Normen zu reflektieren.“

Das ist richtig, aber nicht ganz. Das Internet ist mitnichten nur der Spiegel, es ist auch Akteur dieser Entwicklung. Den Untergang des Abendlandes muß man trotzdem nicht annoncieren.

Halten wir fest, daß die Vorstellung von Privatheit tatsächlich historischen Veränderungen unterworfen ist. Und obwohl wir diese Veränderungen mehr oder weniger mitvollzogen haben, legen wir in der Theorie noch immer unbeirrt die Ideale des bürgerlichen Zeitalters zugrunde, was nur zeigt: Wir haben, um die Trennlinie zwischen Privat und Öffentlich zu bestimmen, noch keine festen Normen, die den veränderten Realitäten entsprechen und zugleich Auswüchse trennscharf kenntlich machen.

Schon das 20. Jahrhundert hat uns überfordert. Die Verhältnisse zwischen den Geschlechtern und den Generationen haben sich geradezu umgestürzt. Gleiches gilt für die Beziehungen zwischen Nationen und Kulturkreisen. Die europäische Welt steht unter einem Rechtfertigungsdruck, der sie moralisch zusammenbrechen läßt. Verändert hat sich das Verhältnis zwischen den sozialen Schichten und zwischen Regierung und Regierten. Der Staatsbürger schaut zur politischen Elite nicht mehr auf, sondern verachtet sie. Alle diese Entwicklungen führen zur Status-Unsicherheit und zu neuer Identitätssuche.

Das Internet verleiht diesen Entwicklungen und Machtverlagerungen im 21. Jahrhundert ein neues Tempo, gerade auch im Zeitungsgewerbe. Wo der Leitartikler früher wie Gottvater agierte, dem man sich demütig mit einem Leserbrief näherte, erscheinen heute in Diskussionsforen giftige Verrisse, die den Adressaten zu einem Meinungsträger unter vielen degradieren.

Auch deswegen wurde das Internet anfänglich als das Medium der wahren Demokratie, der bürgerschaftlichen Partizipation, des freien Informationsaustauschs, der Gleichberechtigung, der Grenzüberschreitung usw. gefeiert. Es hat aber auch ein neues Kampffeld eröffnet, auf dem sich neue Hierarchien etablieren. In Deutschland erstellen rund 10 Prozent der Autoren rund 90 Prozent der Wikipedia-Eintragungen. Das entspricht ungefähr dem nach dem Soziologen und Nationalökonomen Vilfredo Pareto benannten Prinzip der ungleichen Ressourcenverteilung. Demnach trägt im Verhältnis 80 zu 20 eine kleine Anzahl hoher Qualitäten mehr zum Gesamtwert bei als eine große Anzahl geringer Qualitäten.

Einige Beispiele: 80 Prozent der Arbeitsergebnisse werden in 20 Prozent der Zeit erzielt, für die restlichen 20 Prozent werden 80 Prozent der Zeit benötigt. 20 Prozent der Bürger besitzen 80 Prozent des Eigentums, 20 Prozent der Steuerbürger bringen 80 Prozent der Steuern auf usw.

Diese Faustregel gilt international auch für das Internet. 20 Prozent der Teilnehmer an Netzwerken und Plattformen fließen 80 Prozent der Aufmerksamkeit und Reaktionen zu, die übrigen 80 Prozent müssen sich mit dem Rest begnügen. Das heißt, ein Angehöriger der Internet-Elite erntet durchschnittlich 16mal mehr Ruhm als ein Angehöriger des Fußvolks. Da die Aufmerksamkeit, die einem geschenkt wird, als Droge wirkt, und in der virtuellen Welt nur existiert, wer wahrgenommen wird, führt der Konkurrenzkampf um Zuwendung zur Selbstentblößung. Das Private wird in der Hoffnung auf Gewinn als Spekulationskapital eingesetzt.

Nur werden die Grenzen und Regeln des guten Geschmacks zwar undeutlicher, doch sie verschwinden nicht. Das kann erleben, wer als 16jähriger aus Angeberei die Bilder eines Besäufnisses oder einer Intimitäten ins Internet gestellt hat. Ein halbes, eigenes Menschenleben später, also nach dem Studium, erhält er einen als sicher geglaubten Arbeitsplatz nicht, weil der Personalchef gegoogelt, die kompromittierenden Fotos gefunden und nun Zweifel an seiner Seriosität und Eignung hat. Anders geartete Privatfotos hingegen könnten für den Bewerber sprechen, weil sie soziale Kompetenz oder Tatkraft vermitteln. Oder überwiegt auch in diesem Fall der Negativ-Eindruck des Exhibitionismus? Es gibt für solche Unterscheidungen und Bewertungen noch keine festen Normen, sie müssen sich erst experimentell herausbilden.

Vorläufig darf konstatiert werden, daß das Internet nicht nur ein Medium zur kreativen Ich-Erweiterung ist, sondern im Gegenzug auch neue, gnadenlose, weil irreversible Möglichkeiten zur sozialen Kontrolle schafft, die in das Private hineingreifen können. Wenn ein festes Regelwerk fehlt, ist die Entscheidung über das, was geht und was nicht geht, an das Individuum zurückgegeben, sind seine Selbstverantwortung und seine Fähigkeit zur Selbstregulierung mehr denn je gefragt.

Diese brachiale Individualisierung überfordert die meisten. Klar im Vorteil ist, wer Hilfestellungen durch das Elternhaus und andere Institutionen erhält, etwa durch klassische Bildung und Erziehung, die das Medium relativieren und andere Möglichkeiten der Selbstbestätigung vermitteln. Damit wären wir, mitten im Internet-Zeitalter, auf konservative Werte zurückverwiesen.

Foto: Internetnutzer mit der Startseite von Facebook: Manche geben freiwillig intimste Informationen und kompromittierende Fotos von sich preis

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