© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/10 22. Januar 2010

Die verlorene Unschuld der Aktivisten
Nichtregierungsorganisationen: Der Grat zwischen hehrem Engagement, umstrittener Lobbyarbeit und gewaltätigem Auftreten ist schmal
Hans Christians

Was haben  Welthungerhilfe, die Globalisierungskritiker von Attac, Unicef oder Amnesty International gemeinsam? Auf den ersten Blick – wie es scheint – nicht viel. Und doch tauchen sie in trauter Einigkeit auf einer Liste der Vereinten Nationen auf. Als NGOs (Non-Governmental Organisations; Nichtregierungsorganisationen) werden im allgemeinen Verbände, Institutionen und Interessenvereinigungen bezeichnet, die weder nach Profiten noch nach Teilhabe an der politischen Macht streben – wobei letzteres zunehmend in Frage gestellt werden muß. Schließlich stellen sie mittlerweile einen nicht mehr zu unterschätzenden Machtfaktor dar.

Zwischen Umwelt, Frieden und Gerechtigkeit

Experten und Historiker streiten sich lebhaft darüber, wann die ersten NGOs entstanden. Eine Mehrheitsmeinung geht mittlerweile davon aus, daß es solche Zusammenschlüsse bereits seit Ausgang des späten Mittelalters gibt. Ein eindeutiger Vorläufer der heutigen Nichtregierungsorganisationen ist zweifelsohne die 1849 gegründete Anti-Slavery Society, die sich zum Ziel gesetzt hatte, die Sklaverei innerhalb des Britischen Empire zu beenden. Auch die im 19. Jahrhundert gegründeten Rotkreuz-Organisationen sind der Vorfahren-Generation zuzurechnen.

Mitte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts setzte dann der stete Anstieg der Nichtregierungsorganisationen ein. Von 4.200 auf 7.600 verdoppelte sich ihre Anzahl nach Angaben der Union of International Associations (UIA) zwischen 1987 und 2007 fast. Dabei ist die Definition von NGO in diesem Fall eng umrissen: „Generell sind unter dem Begriff alle internationalen Organisationen zu verstehen, die nicht durch ein öffentliches Mandat legitimiert sind“, erklärt die Bundeszentrale für politische Bildung und fährt fort: „Wird der Begriff ‘NGO‘ breiter gefaßt und werden alle privaten Akteure und Interessengruppen – also internationale Gewerkschaften, Wirtschaftsverbände, Verbände von wissenschaftlichen Einrichtungen, Wohlfahrtsverbände, Hilfsorganisationen, Stiftungen, Kirchen, Selbsthilfegruppen und Bürgerinitiativen – mit einbezogen, steigt die Zahl der NGOs auf 21.000 international agierende NGOs.“ 21.000? Die Zahlen schwanken enorm. Andere Berechnungen, die meist mit Schätzungen verbunden sind, gehen von weltweit 50.000 bis 100.000 NGOs aus. Das aktuelle NGO-Handbuch von Greenpeace e.V. listet 421 Organisationen mit „mehr als zehn Millionen“ Mitgliedern und Förderern im deutschsprachigen Raum auf.

 Davon entfallen allein rund 564.500 Menschen (2008) auf den Branchenprimus Greenpeace (1971 gegründet). Die Umweltschutz-Aktivisten mit Sitz in Hamburg finanzieren sich Eigenangaben zufolge zu über 90 Prozent aus Spenden und Fördergeldern. Dabei erreichten die Gesamterträge von Greenpeace e.V. Deutschland im Jahr 2008 43,6 Millionen Euro. Dem standen Aufwendungen in Höhe von 41,7 Euro Millionen gegenüber (den größten Kostenfaktor bilden hierbei die Kampagnen mit 28,3 Millionen Euro, die Verwaltung schlägt mit 2,7 Millionen Euro zu Buche).

Oberstes Beschlußgremium ist die 40 Köpfe zählende Mitgliederversammlung. Diese wählt bis zu sieben ehrenamtliche Aufsichtsratsmitglieder, die wiederum die Geschäftsführung einsetzen, beraten und kontrollieren. Diese trägt die rechtliche, organisatorische und finanzielle Gesamtverantwortung für den Verein, dessen 186 festangestellte Mitarbeiter (2008) und die circa 3.300 ehrenamtlichen Aktivisten.

Die Mitgliederversammlung wird jedoch nicht von den Förderern gewählt, sondern besteht aus jeweils zehn bestellten Vertretern ausländischer Greenpeace-Organisationen, aktiven Mitgliedern in Greenpeace-Gruppen,  deutschen Greenpeace-Mitarbeitern und „sonstigen natürlichen Personen, die sich für die Zwecke und Ziele“ des Vereins einsetzen: Hierarchie statt Demokratie. Nötige „Grenzen bei der Mitbestimmung“ (Spiegel-online) nennt das der neue Chef von Greenpeace-International, Kumi Naidoo.

Die mangelnde demokratische Legitimation kennzeichnet die Gegenwart der NGOs in Deutschland und der Welt. Doch dies scheint deren Protagonisten  wenig zu schaden – im Gegenteil. Wie kein anderer Akteur stehen die NGOs im Ruf politischer Glaubwürdig-  und Aufrichtigkeit. Und nur wer glaubwürdig erscheint, wirbt erfolgreich Anhänger und Spenden für den Kampf für die Umwelt, soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte, Frieden, den Schutz von Walen (www.wdcs-de.org) oder um „linke, herrschaftskritische Debatten“ (www.buko.info). Dabei kennen die NGOs untereinander kaum Berührungsängste. Je nach Interessenlage und Kampagnenzielen geht man Allianzen ein und verläßt sie wieder.

Doch Glaubwürdigkeit hin, Aufrichtigkeit her. Viele Entscheidungsträger aus Politik und Wirtschaft sprechen täglich mit NGO-Vertretern. Ihr Einfluß ist beträchtlich, aber dennoch selten Gegenstand öffentlicher Diskussionen. „Es gibt Gruppen, die funktionieren letztlich wie klassische Lobby-Initiativen, wie wir sie aus Politik und Wirtschaft kennen“, sagt der Politikwissenschaftler Claus Leggewie und verweist auf die EU-Zentrale in Brüssel, wo derzeit rund 5.000 Vertreter von nichtstaatlichen Organisationen akkreditiert sind.

Der Grat zwischen umstrittener Lobbyarbeit und hehrem NGO-Engagement ist schmal – zumal die Übergänge von „nichtstaatlichen“ Organisationen zur Parteipolitik fließend sein können. Gerade dreißig Jahre nach der Gründung der Grünen lohnt sich ein Blick zurück. Denn ein Großteil der Gründergeneration setzte sich aus Gruppen zusammen, die man heute als NGOs bezeichnen würde. Friedensbewegungen oder Komitees gegen die Startbahn West am Frankfurter Flughafen dienten als Durchlauferhitzer für eine Vielzahl von späteren Parteifunktionären.

Insbesondere der Umweltschutz entwickelte für die NGOs geradezu einen Modellcharakter, merkten die Protagonisten doch alsbald, daß sich die Probleme, die sich aus der Verschmutzung der Natur ergeben, nur grenzübergreifend lösen lassen würden. So kann es nicht überraschen, daß schon beim UN-Umweltgipfel in Rio de Janeiro im Jahr 1992 mehr als 1.400 Nichtregierungsorganisationen vertreten waren. Die UN-Klimakonferenz in Kopenhagen im Dezember 2009 sprengte dagegen alles bisher Dagewesene. Über 20.000 akkreditierte Aktivisten verlangten Teilnahme und Mitsprache.

NGOs sind nicht nur ein einflußreicher Faktor in der internationalen Politik, sondern auch „als Arbeitgeber gefragt“, sagt die Soziologin Sigrid Betzelt, Mitautorin des Buches „Nonprofit-Organisationen als Arbeitgeber“ (Opladen, 2000). Schließlich benötigen auch NGOs Fachleute, sei es für den Bereich der Finanzierung, im Controlling oder aber auch im Personalwesen. Im Umweltschutz würden häufig Biologen und Ingenieure gebraucht, so Betzelt, auch Klimaforscher hätten auf diesem Arbeitsmarkt zunehmend Chancen.

NGO haben nur dann Erfolg, wenn die Medien mitspielen

Wie groß der Einfluß dieser Organisationen wirklich ist, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. „Überschätzte Akteure?“ fragt beispielsweise die Bundeszentrale für politische Bildung in einer Publikation provokant. Einer globalisierungskritischen Organisation wie Attac sei es zwar gelungen, zahlreiche Aktivisten und Demonstrationsteilnehmer zu mobilisieren – ihr erklärtes Ziel, Veränderungen im Globalisierungsprozeß durchzusetzen, habe sie aber bislang nicht erreicht. Die Bundeszentrale kommt zu dem Schluß: „Vor allzu euphorischen Zwischenbilanzen ist allerdings zu warnen. So macht etwa ein Blick auf die oftmals kargen materiellen Politikergebnisse – man denke nur an die des Rio-Prozesses – deutlich, daß mächtige Nationalstaaten, Staatengruppen wie auch Wirtschaftsakteure weiterhin zentrale Akteure in der internationalen Arena sind.“

Augenfällig ist hier die unterschiedliche Themengewichtung je nach Region, die im Endeffekt ein klassisches Nord-Süd-Gefälle darstellt. Denn NGOs aus wirtschaftlich starken Staaten handeln anders als solche aus ökonomisch schwachen. „Die meist aus dem Norden stammenden Gruppen können beispielsweise bei Umweltkonflikten nicht unbedingt für die Mehrheit der Bevölkerung im Süden reden“, erläutert Leggewie.

Eine wichtige Rolle für die Arbeit der Nichtregierungsorganisationen spielen zwangsläufig die Medien. Im Zeitalter der modernen Kommunikation hat eine Initiative nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn es ihr gelingt, Multiplikatoren der öffentlichen Meinung für sich einzunehmen. Beispielhaft für diese Form der Arbeit ist beispielsweise das Auftreten von Amnesty International, die mit gezielten Protesten gegen die Todesstrafe unter anderem in den USA regelmäßig große Aufmerksamkeit erreichen, oder aber auch Greenpeace-Aktionen wie die Besetzung der von Shell betriebenen Öl-Plattform Brent Spar, die eine weltweite Medienresonanz erzielte, obwohl an der Kaperung selbst nur wenige Personen beteiligt waren.

So ist es für Erfolg und Bedeutung der NGOs nicht zwangsläufig wichtig, über einen großen Mitarbeiterstab und eine Vielzahl von Mitgliedern zu verfügen. Andererseits gehören aber auch Mobilisierungskampagnen wie Unterschriftenaktionen oder Demonstrationen zum festen Repertoire der Nichtregierungsorganisationen.

Hierbei ist jedoch das Verhältnis zur Gewalt zu beleuchten. Wenn es wie beim G8-Gipfel in Heiligendamm im Jahr 2007 zu gewalttätigen Ausschreitungen von Gegendemonstranten kommt, dann muß auch hinterfragt werden, welche Rolle die beteiligten zumeist linken NGOs dabei gespielt haben. So sprechen manche Analysten davon, daß auch die nichtstaatlichen Organisationen „mittlerweile ihre Unschuld verloren haben“.

In den Reihen der Vereinten Nationen bemüht man sich daher darum, ein wenig Licht in den Dschungel der Organisationen zu bringen. Auf der offiziellen Liste soll künftig nur geführt werden dürfen, wer klare und transparente Richtlinien in Sachen Finanzierung, Mitgliederentwicklung, demokratische Entscheidungsprozesse und Verhältnis zur Gewalt einhält.

Foto: NGO-Aktivisten demonstrieren gegen ihren Ausschluß vom UN-Klimagipfel in Kopenhagen: Skandal oder Sicherheit für die Offiziellen?

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