© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/10 15. Januar 2010

Von der Tyrannei des Privaten
Schamlosigkeit und Dauergeschwätz
von Peter Kuntze

Nicht nur für den Deutschen Fußball-Bund (DFB) dürfte der 15. November 2009 ein denkwürdiges Datum sein. An jenem Tag hatten im Bundesliga-Stadion von Hannover rund 35.000 Menschen Abschied von Robert Enke genommen. Der Torwart der Nationalmannschaft war fünf Tage zuvor aus dem Leben geschieden, indem er sich wegen Depressionen vor einen Zug geworfen hatte. Nach Konrad Adenauers Beerdigung soll die Zeremonie auf dem Fußballplatz die größte Trauerfeier der deutschen Nachkriegsgeschichte gewesen sein.

Fünf TV-Stationen übertrugen aus der niedersächsischen Landeshauptstadt live das Ereignis, das zusammengerechnet knapp sieben Millionen Zuschauer an den Bildschirmen verfolgten, was einem Marktanteil von 47 Prozent entsprach. Zuvor war Enkes Tod Aufmacher nicht nur der Boulevardpresse, sondern auch der sogenannten Qualitätszeitungen und der öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten gewesen.

Nur wenige indes stellten die Maßstabslosigkeit und die groteske Übertreibung der tagelangen Berichterstattung sowie den „Event“-Charakter jener schrill inszenierten Trauerfeier in Frage. Dabei lag es nahe, im Fall Enke nicht nur das tragische Schicksal eines 32jährigen Sportlers und Familienvaters zu sehen: Hier wurde einmal mehr das Private öffentlich, ja, es wurde angesichts staatlicher Regierungs- und höchster Vereinsrepräsentanz sogar politisch. Wäre Enke einem Verkehrsunfall zum Opfer gefallen, hätte die Anteilnahme sicherlich nicht derartige Ausmaße angenommen. Es waren der Suizid und das nachträgliche Bekanntwerden der psychischen Erkrankung, die Robert Enke in den Mittelpunkt des weit über den sportlichen Bereich hinausgehenden Interesses stellten.

Es konnte nicht ausbleiben, daß bei dieser privaten Tragödie viele fragwürdige Töne angeschlagen wurden: So pries Margot Käßmann, die Hannoversche Landesbischöfin und EKD-Ratsvorsitzende, den Toten im Rahmen eines ökumenischen Gottesdienstes als „Vorbild” und als „Hoffnungsträger” – nicht bedenkend, daß diese Worte wohl kaum für jemanden angemessen sein dürften, der sich und anderen ständig etwas vorgemacht und zum Schluß auch noch einen Zugführer seelisch belastet hatte.

Niedersachsens Regierungschef Christian Wulff wiederum beschwor Enkes persönliches Schicksal gar als ein Menschheitsmenetekel. „Die Welt ist nicht im Lot“, erklärte er unter Tränen und verlangte ein Umdenken in der Gesellschaft: „Wir brauchen keine fehlerfreien Roboter. Wir brauchen Menschen mit all ihren Schwächen und wunderbaren Eigenschaften.“ Nach diesen Sätzen erhoben sich die Stadionbesucher spontan von ihren Sitzen und spendeten dem CDU-Politiker langanhaltenden Beifall.

An die Menschlichkeit appellierte auch DFB-Präsident Theo Zwanziger und forderte einen Blick über den Sport hinaus: „Fußball ist nicht alles. Denkt nicht nur an den Schein, denkt auch an das, was in den Menschen ist an – Zweifeln und Schwächen.“ Alle seien aufgerufen, das Leben mit Fairplay und Respekt zu gestalten. Das „Kartell der Tabuisierer und Verschweiger“ müsse durchbrochen werden. Was Zwanziger mit diesem Satz meinte, erläuterte er tags darauf in der DFB-Zentrale in Frankfurt am Main: „Es ist wichtig, daß wir als DFB im Kampf gegen falsches und altes Denken an die Öffentlichkeit gehen (...) Wir können mithelfen, das gesellschaftliche Klima zu verändern, damit eine Tabuisierung der Depression, aber auch der Homosexualität unmöglich gemacht wird.“

Nietzsches „Pathos der Distanz“ als Ausdruck des Vornehmen ist einem aufdringlichen Voyeurismus und einer kumpelhaften Nähe gewichen; Diskretion und Dezenz scheinen zu hoffnungslos reaktionären Haltungen geworden, die zu Spekulationen Anlaß geben.

Damit hatte Deutschlands oberster Fußball-Funktionär endlich wieder sein Herzensanliegen zur Sprache gebracht: die Hoffnung auf das öffentliche „coming-out“ schwuler und lesbischer Kicker. Daß sein Aufruf zur Preisgabe intimster Lebensbereiche – der sexuellen Präferenz und jetzt auch noch der seelischen Befindlichkeit – im Grunde ein unsittliches Verlangen ist, scheint Zwanziger nicht in den Sinn zu kommen. Schon seit Jahren fühlt er sich nämlich bemüßigt, mit den Bataillonen des DFB den staatlich initiierten „Kampf gegen Rechts“ zu verstärken und alle Fußball-Fans unter der Parole „Es ist normal, anders zu sein“ zur Akzeptanz sich offenbarender Minderheiten zu erziehen.

Daß die Erfolge bisher ausgeblieben sind, ist indes nicht verwunderlich. Im hochbezahlten Spitzensport, der auf Kampf und Konkurrenz beruht, wird verständlicherweise niemand eine Schwäche eingestehen oder sich eine Blöße geben – andererseits steht es aber jedem frei, die öffentliche Show-Bühne zu verlassen oder sie gar nicht erst zu betreten, wenn er meint, dem Druck nicht standhalten zu können. Doch diese Alternative ist selbst im Fall Enke nicht zur Sprache gebracht worden. Die Pausbacken des guten Gewissens rüsten daher weiter unverdrossen gegen die Dumpfbacken des vermeintlich Bösen, das sich ihnen wahlweise als die kapitalistische Leistungsgesellschaft oder als Neuauflage des Faschismus darstellt.

Daß hierbei, flankiert von der Sprach- und Gedankenpolizei der Political Correctness, die Kampfzone ständig ausgeweitet wird, hatte vor geraumer Zeit schon Friedrich Dürrenmatt konstatiert. In seinem noch immer lesenswerten Essay über Israel („Zusammenhänge“) wies er bereits 1975 darauf hin, heutzutage operiere man „mit dem Wort ‘faschistisch’ in dem Sinne, daß jeder, der nicht links steht, ein Faschist geworden sein soll, wobei links sich verschieben läßt, ins Endlose eigentlich, immer ist jemand noch linker, und jeder ist für irgend jemanden rechts und damit ein Faschist. Oft zu seinem Erstaunen“.

Was Zwanziger, Wulff und andere Prediger einer „offenen und toleranten“ Gesellschaft beschwören, ist im Grunde bis auf wenige Ausnahmen längst eingetreten – ob zu ihrer Zufriedenheit, bleibe dahingestellt: die gleiche Gültigkeit und damit Gleichgültigkeit aller Lebensstile und Werte, die daraus resultierende schamlose Preisgabe alles Persönlichen sowie das pausenlose Geplapper auf allen Wegen der Kommunikation. Nietzsches „Pathos der Distanz“ als Ausdruck des Vornehmen ist einem aufdringlichen Voyeurismus und einer kumpelhaften Nähe gewichen; Diskretion und Dezenz sind hoffnungslos reaktionäre Haltungen geworden, die im medialen Dauergeschwätz nur noch zu mancherlei Spekulationen und Verdächtigungen Anlaß geben.

Als Ikone der massendemokratischen Gegenwart könnte daher Caravaggios Gemälde „Der ungläubige Thomas“ (1602) fungieren: So wie dort Jesus seine Seitenwunde freimacht und sie von dem ungenierten Apostel befingern läßt, so entblößen mittlerweile viele freiwillig ihr Intimstes, das dann von anderen neugierig beäugt und verbal begrabscht wird.

Eines von ungezählten Beispielen lieferte die australische Schauspielerin Nicole Kidman, die im Magazin People ihre weiblichen Kurven nach der Geburt ihrer Tochter pries. Vor allem, so Kidman, freue sie sich über ihre gewachsene Oberweite: „Meine Brüste sind nicht besonders groß. Jetzt haben sie einfach eine normale Größe bekommen. Wenn man sein ganzes Leben einen eher androgynen Körper hatte, ist es ein schönes Gefühl, Brüste zu haben“, verriet die 42jährige. Zudem hätten ihr die Kurven zur ersten Rolle nach der Babypause verholfen. „Ich hatte wirklich große Brüste, weil ich zu der Zeit noch gestillt habe. Ich war perfekt für die Rolle.“ Diese Freudenbotschaft, die durch alle Gazetten ging, teilte selbst die Süddeutsche Zeitung am 18. November 2009 ihren Lesern mit.

Doch es sind beileibe nicht nur Prominente und Semi-Prominente, die ihr Innerstes nach außen kehren. Die Gefahr, der Tyrannei des Privaten zum Opfer zu fallen, lauert überall. Seit der flächendeckenden Verbreitung des Handys wird der arglose Reisende in jedem öffentlichen Verkehrsmittel ungewollt Ohrenzeuge, wie Geschäftsleute mit ihren Sekretärinnen, Kunden oder Kollegen Betriebsinterna, Abschlüsse oder Verkaufsstrategien bekakeln. Andere Zeitgenossen plappern ohne Rücksicht auf die Umgebung über ihre Beziehungsprobleme, kündigen den Lieben daheim freudig das baldige Kommen an oder treffen Verabredungen für die nächsten Abende. Dieser Suada aus Wortmüll und Platitüden läßt sich kaum mehr entrinnen, denn inzwischen ist nahezu der gesamte öffentliche Raum zum Resonanzboden des verbalen Exhibitionismus geworden.

Schauspieler, Models, Regisseure und selbst Spiegel-Journalisten schreiben über ihre Krebskrankheit oder das Sterben nächster Angehöriger. Während in öffentlich-rechtlichen Talkshows seit Jahren stets dieselben „Experten“ und Politiker in einer gefühlten Endlosschleife die ewig gleichen Themen durchhecheln, geht es in Privatsendern vornehmlich um Busen- und Penisgrößen, oder es werden Vor- und Nachteile diverser Sexualpraktiken erörtert. Gäbe es keinen Ausschaltknopf, wäre des Fremdschämens kein Ende.

Nicht anders im Internet. Noch vor 26 Jahren hatte es in Westdeutschland fast einen Aufstand gegeben, als im Rahmen einer Volkszählung auch elektrische Haushaltsgeräte erfaßt werden sollten. Die Befragung mußte abgesagt werden und fand erst 1987 in revidierter Form statt. In der Zwischenzeit hatte das Bundesverfassungsgericht ein Recht auf „informationelle Selbstbestimmung“ gesetzlich verankern lassen. Heute jedoch sind alle Dämme gebrochen. In Netzwerken, Foren und auf homepages werden persönliche Daten und Bilder veröffentlicht, über die der einzelne keine Kontrolle mehr hat; im Internet gibt es keine Privatsphäre, da die Spuren des Benutzers nicht dauerhaft gelöscht werden können.

So wollte eine blonde Schülerin ihren Freunden und Klassenkameraden eigentlich nur ein hübsches Foto von sich zeigen und stellte es auf eine homepage, auf der sie sich mit ihren Altersgenossen austauscht. Kurz darauf tauchte das Foto auf einer offensichtlich rassistischen Internetseite auf. Unter dem Titel „Bilder für jeden, der die nordische Rasse liebt“ fand sich die Schülerin neben 122 anderen Mädchen wieder.

Eine mögliche Erklärung für Klatsch, Voyeurismus und schamlosen Exhibitionismus kann in der Abwertung maskuliner Eigenschaften wie Selbstdisziplin, körperliche Härte und seelische Robustheit liegen, Folge des Bedeutungsverlustes alles Militärischen.

Auf der Online-Plattform YouTube wiederum konnten 600 Personen das Video einer 14jährigen sehen, die für ihren Freund nackt und lasziv vor einer Webcam posierte – ein Spaß, der für sie zur Blamage wurde. Diese und andere Beispiele finden sich in der Broschüre „Entscheide Du – sonst tun es andere für Dich“, die der schleswig-holsteinische Datenschutzbeauftragte im November zusammen mit dem Bildungsministerium herausgegeben hat, um Schüler auf die Gefahren des Internet aufmerksam zu machen.

Doch gegen den Drang zur Selbstdarstellung auf der einen und gegen den Voyeurismus auf der anderen Seite scheint es keine Abhilfe zu geben. So nimmt seit Einführung der Foto-Handys und der Digitalkameras das Vorgehen der im Bayerischen „Adabeis“ genannten Unfall-Gaffer derart kriminelle Formen an, daß Schleswig-Holsteins Innenminister Klaus Schlie Alarm geschlagen hat. Auslöser war ein Unfall auf der Autobahn, bei dem die Retter eine Frau bergen mußten, die in ihrem Wagen, aus dem bereits die Flammen schlugen, eingeklemmt war. Ein Lkw-Fahrer soll dabei vom Straßenrand aus zugeschaut haben, obwohl er in seinem Fahrzeug einen Feuerlöscher hatte und von den Einsatzkräften zur Hilfe aufgefordert worden war. In anderen Fällen behinderten Gaffer Feuerwehr, Polizei und Sanitäter, indem sie den Rettungsweg blockierten und sich nach vorn drängelten, um die besten Fotos machen zu können.

Mit der gängigen Klage von Kulturpessimisten, früher sei eben alles besser gewesen, läßt sich der allseits zu beobachtende Verfall der guten Sitten wohl kaum begründen. Schließlich hatte Sebastian Brant bereits 1494 in der Satire „Das Narrenschiff“ das schon zu seiner Zeit grassierende Dauergeschwätz aufgespießt: „Wer reden will, wo er nicht soll, / Der taugt zum Narrenorden wohl; / Wer ohne Frage gibt Bescheid, / Der zeiget selbst sein Narrenkleid.“

Daß die Emanzipation der Frau zu einem Bedeutungsverlust alles Militärischen und zu einer Entheroisierung der modernen Gesellschaft geführt hat, die im Gegenzug immer femininer geworden ist, läßt sich nicht bestreiten. Eine mögliche Erklärung für Klatsch, Voyeurismus und schamlosen Exhibitionismus könnte daher in der Abwertung maskuliner Eigenschaften wie Selbstdisziplin, körperliche Härte und seelische Robustheit liegen. Die Verweiblichung des Männlichen gipfelt in einer zunehmenden Verweichlichung der Gesellschaft, was ihr einen heulsusenhaften Charakter verleiht. Vielleicht gerät die moderne Massendemokratie analog zu Spenglers Morphologie der Kulturkreise somit allmählich an ihr eigenes Ende.

Dieses Ende wäre jedoch nur eine Wiederholung, denn schon Sebastian Brant hatte ähnliche Symptome festgestellt: „Was vormals war ein schändlich Ding, / Das schätzt man schlicht jetzt und gering: / Sonst trug mit Ehren man den Bart, / Jetzt lernen Männer Weiberart / Und schmieren sich mit Affenschmalz / Und lassen am entblößten Hals / Viel Ring’ und goldne Ketten sehn.“

 

Peter Kuntze war von 1968 bis 1997 Redakteur der Süddeutschen Zeitung. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über den Werte-Relativismus: „Die Utopie und ihr Halbbruder“ (JF 44/09).

Foto: X-beliebige Talkshow auf x-beliebigem Sender: Eine Suada aus Wortmüll und Platitüden: Gäbe es keinen Ausschaltknopf, wäre des Fremdschämens kein Ende

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