© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/10 15. Januar 2010

Kolumne
Die Nebel der geistig-politischen Wende
Klaus Motschmann

Die Jahreswende ist traditionell Anlaß zur Rückschau und zur Vorschau. Die Rückschau bestätigt in der Regel, daß die Wünsche des vergangenen Jahres sich nicht, zumindest nicht in vollem Maße, erfüllt haben und daß die Entwicklungen im politischen, gesellschaftlichen und privaten Leben ganz anders als gewünscht und erwartet verlaufen sind. Es handelt sich um eine der wenigen Gewißheiten menschlicher Daseinsgestaltung.

Man sollte meinen, daß aus dieser Erfahrung die angemessenen Schlußfolgerungen in der Vorschau auf das kommende Jahr gezogen würden. Davon war auch in den diesjährigen Neujahrsbotschaften weithin nicht die Rede. Maßgebende Politiker und Ideologen aller Art sprachen angesichts der schweren Krisensituation zwar von der Notwendigkeit einer „geistig-politischen Wende“ – wieder einmal, wie man in Erinnerung an Helmut Kohls wortwörtliche Zielsetzung am Beginn seiner Kanzlerschaft hinzufügen muß oder an Roman Herzogs „Ruck“, auf den wir bis heute warten. Doch „Wende“ wohin? Wer weiß und weist den Weg zum Ziel? Und wer führt zu diesem Ziel? Welche politischen und geistigen Kräfte fördern durch ihr Verhalten diese offenkundige Neuorientierung?

Überzeugende Antworten auf diese naheliegenden Fragen sind bislang kaum zu vernehmen. Es wird zwar immer häufiger an die politische Binsenweisheit erinnert, daß sich verantwortliche politische und gesellschaftliche Orientierungen an den Realitäten auszurichten haben. Es wird aber nicht gesagt, welche Realitäten damit wirklich gemeint sind. Gewiß werden da und dort neue Schwerpunkte des politischen und gesellschaftlichen Handelns gesetzt, die den Eindruck einer Neuorientierung vermitteln sollen. Aber alle Rochaden laufen letztlich am eigentlichen Problem vorbei, weil sie eine selbstverständliche Voraussetzung jeder Therapie mißachten: die gründliche Diagnose. Dazu gehören Fragen nach den Ursachen der inzwischen allgemein beklagten Zustände in Politik, Gesellschaft und Kultur.

Doch viele Fragen werden nicht mehr gestellt, weil die politische und intellektuelle Linke nach wie vor das in Jahrzehnten aufgebaute Informationsnetz, das sogenannte agenda setting, beansprucht und beherrscht. Verantwortliche Politiker und Publizisten, die es ja auch noch gibt, haben wenig Chancen, sich unter diesen Umständen für eine „geistig-politische Wende“ einzusetzen.

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaft an der Hochschule der Künste Berlin.

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