© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/10 08. Januar 2010

Geburt eines Menschheitsfeindes
Der Philosoph Ernst Bloch, die alliierte Propaganda des Ersten Weltkriegs und die Forderung nach einem Schuldkult
Doris Neujahr

Das Singularitäts-Postulat, das über Teilen der deutschen Geschichte schwebt und das auch der jüngsten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Paragraphen 130 Strafgesetzbuch zugrunde liegt, ist im Grunde beliebig. Es war bereits am Ende des Ersten Weltkriegs fix und fertig, als deutsche Kriegsgreuel nur in der gegnerischen Propaganda stattfanden oder sich doch im Rahmen des allseits Üblichen bewegten. Auf der propagandistischen Ebene war das Bild des singulären Barbaren fest etabliert, so in der Legende von den abgehackten Händchen belgischer Kinder.

Auf der politischen Ebene war sie ebenfalls ein fester Topos. In der Note des französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau vom 16. Juni 1919, die der deutschen Delegation in Versailles übergeben wurde, heißt es, Deutschland habe „durch den Krieg seine Leidenschaft für die Tyrannei (...) befriedigen wollen“, sein Verhalten sei „das größte Verbrechen gegen die Menschheit und gegen die Freiheit der Völker gewesen, welches eine sich für zivilisiert ausgebende Nation jemals mit Bewußtsein begangen hat“. Es sei „in der Geschichte fast beispiellos“.

Auf der philosophischen Ebene trug unter anderem der Amerikaner John Dewey mit dem antideutschen Traktat „Deutsche Philosophie und deutsche Politik“ sein Scherflein bei. Dewey datierte den Beginn des deutschen Übels auf Kant, zum Schluß schreibt er drohend: „An und für sich ist die Idee des Friedens eine negative, eine Polizeiidee“, die keinerlei, auch keine „nationalen Schranken“ kenne. Das Pamphlet aus dem Jahr 1915 konnte – um ein Vorwort und ein Kapitel über den Nationalsozialismus ergänzt – 1942 unverändert neu aufgelegt werden.

Übernahme alliierter Propaganda durch Deutsche

Noch ehe seine militärische Niederlage im Ersten Weltkrieg feststand, hatte Deutschland die Propagandaschlacht verloren. Es fand kein Rezept gegen das angelsächsische Gewohnheitsrecht, materielle und Machtinteressen mit dem Anspruch einer höheren, universellen Moral zu begründen. Diese Gewohnheit, die dem Profit- und Machtstreben ein gutes Gewissen verschaffte, wurzelte im Puritanismus und wurde subjektiv ehrlich empfunden. Da sie mit globaler Macht verbunden war, wurde sie zum international akzeptierten Faktum.

Deutsche Politiker und Publizisten reagierten mit der expliziten Verneinung moralischer Begründungen und mit der Behauptung eines ungeheuchelten Realismus. Das aber wurde Deutschland nicht als Aufrichtigkeit gutgeschrieben, sondern bestätigte das moralische Recht der Briten und das deutsche Unrecht. Die geostrategische Überlegenheit der Alliierten zahlte sich propagandistisch aus. Die britische Hungerblockade war zwar in grausamer Weise effektiv, sie wirkte aber allmählich und äußerlich undramatisch. Die U-Boot-Krieg, mit dem Deutschland antwortete, verlief dagegen höchst auffällig, und jede spektakuläre Versenkung eines Schiffs ließ sich als anschauliches Beispiel deutscher Barbarei verwenden.

Was nach dem Zweiten Weltkrieg üblich wurde: die Übernahme der Feindzuschreibungen durch die Deutschen selbst, findet im Ersten Weltkrieg gleichfalls etliche Präzedenzfälle. Den prominentesten lieferte der Philosoph Ernst Bloch (1885–1977), der aus gesundheitlichen Gründen vom Wehrdienst freigestellt war und zu Studienzwecken in die Schweiz reisen durfte. Sein Forum war die in Bern herausgegebene Freie Zeitung, die erstmals am 14. April 1917 erschien, fünf Tage nach der Kriegserklärung der USA an Deutschland, und am 27. März 1920 endete. Ihre Finanzierung ist ungeklärt, Geldflüsse aus Frankreich und den USA gelten als wahrscheinlich. Zu den noch heute bekannten Mitarbeitern gehörten der spätere bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner, der Publizist Maximilian Harden und der künftige Weltbühne-Herausgeber Carl von Ossietzky.

Dem 32jährigen Bloch war klar, daß Deutschland nach dem Kriegseintritt der USA nicht mehr siegen konnte und das erreichbare Maximum in einem Frieden mit erträglichen territorialen und wirtschaftlichen Einbußen bestand. Dennoch bestand er – gegen den Pazifismus eines Helmut von Quidde, der einen ehrenhaften Verständigungsfrieden verlangte – auf der Forderung Clemenceaus nach Fortsetzung des Krieges bis zur Niederlage Deutschlands: Denn dies sei das Land, wo der Krieg „zum staatsnotwendigen und staatsfördernden Prinzip erhoben wurde und es auch weiterhin bleiben soll“. Für Bloch verkörperten das deutsche Kaiserreich und insbesondere Preußen nicht einfach kritikwürdige Systeme, sie bildeten das Böse schlechthin. Es herrschten dort Niedertracht, Unmoral, ein skrupelloser Machiavellismus, maßlose Verlogenheit und Opportunismus.

Die Wahrheit über die deutsche Alleinschuld am Kriegsausbruch und die Kriegsverbrechen setzte er als unumstößlich voraus. „Die Deutschen haben ungeheuren Mord begonnen. Die anderen setzten sich zur Wehr, zur Notwehr.“ Der alliierte Krieg richte sich „gegen die Substanz der deutschen Verbrecherjahre und Preußen als ihren Ursprung“, mithin gegen ein „radikalst Böses“.

Deutschland vor „moralisches Weltparlament“ stellen

Wenn die Deutschen ihrer Pflicht, dem kaiserlichen Regime selber ein Ende zu bereiten, nicht nachkämen, müsse eben der Feind diese Aufgabe übernehmen. Im Januar 1918 kritisierte er sogar US-Präsident Woodrow Wilson, als dieser andeutete, wegen möglicher Friedensverhandlungen zwischen den politischen Lagern in Deutschland differenzieren zu wollen. Deutschland, so Bloch, sei „ein einziges Heerlager, (...) eine Nation voll Selbstsucht und nacktester, kreatürlichster Machtgier“, und die Nuancen zwischen Hindenburg und dem Sozialdemokraten Scheidemann seien höchstens „taktischer“ Natur. Die Alternative zur Niederlage Deutschlands wäre „die Niederlage der Menschheit“ und „die Gesamtdepression des Menschlichen“.

Am „Radikalbösen des zentralmächtlichen, rein kreatürlichen, widerchristlichen Macht-Materialismus“ nehme das gesamte deutsche Volk Anteil, denn es „schwieg, ja es bejubelte vier Jahre lang die schändlichsten, teuflischsten Taten seiner Regierung“. Das so zum Menschheitsfeind stilisierte Deutschland müsse vor „ein vollzählig ermöglichtes moralisches Weltparlament“ gestellt werden, vor dem „das hauptsächlichste, entscheidendste Recht“ eines Deutschen darin bestünde, „seine Reue, sein Schuldbewußtsein zu fühlen“. Die Schuld am Krieg dürfe nicht einfach anhand nachweisbarer Tatsachen, sondern müsse auch moralisch interpretiert werden. Für Bloch war in den Deutschen ein tief eingewurzeltes Destruktionsstreben wirksam.

Wohl konzedierte er vielschichtige – ökonomische, diplomatische, politische und „allgemein menschliche, in der Gottferne dieser ganzen Epoche begründete“ – Kriegsursachen, die aber nicht die „sehr spezielle, sehr aufs einzelne der deutschen Menschen und des gesamten deutschen Volkes gehende Untersuchung der Kriegsschuld dispensieren“ könne.

Zukunftserwartungen setzt er auf die USA unter dem Präsidenten Woodrow Wilson und auf Rußland. Beide zusammen bildeten „das neue geistige Massiv der Zukunft“ und der „neuen geistlichen Universalität menschlicher Gemeinschaft“. Eine „neue Mystik der Brüderlichkeit und Gemeinde zieht aus Amerikas kräftig offener Jugend so gut wie aus Rußlands Wärme, Tiefe und Christushoffnung heraus; aus der Morgenfrische dieser beiden Reiche leuchtet endlich Radikal-Gutes in die Welt.“

Vor dieser allseitigen Übermacht blieb den Deutschen nur die Möglichkeit der Unterwerfung. Bloch lobte den neuen bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner, der am 25. November 1918 einseitig Akten des Bayerischen Außenministeriums publizieren ließ, um die deutsche Hauptverantwortung am Krieg zu dokumentieren – eine „moralische Tat“ und ein Versuch,  „endlich sittliche Glut und Volkserneuerung in dieses verrottete Deutschland zu bringen“. Doch mit demonstrativen politischen Akten konnte es nicht genug sein. „Durch Reue also, durch innerstes Erleben der deutschen Kriegsschuld, durch demütige, sich selbst im Unrecht fühlende Mitverantwortlichkeit, durch Umkehr von den Wegen und inneren Prämissen, die schließlich zur deutschen Kriegsinitiative führten, muß jeder einzelne in Preußen-Deutschland (...) hindurchgehen.“ Die deutsche Schuld sei eine „psychisch-ethische Qualität“, der erst die Reue ein Ende setzte, indem „die Tat mit ihrer Wurzel aus dem Lebenszentrum der Person, der Gemeingesinnung“ herausgestoßen wurde. Hier ist schon alles skizziert, was Karl Jaspers 1945/46 in seiner Schrift „Die Schuldfrage“ detailliert ausführte. Nun ließe sich einwenden, Bloch habe zwar übertrieben, aber doch eine innere Wahrheit erspürt, die 1945 dann offenbar wurde.

Gesinnungs-Verbrechen      von der negativen Seite

So argumentiert auch der Historiker Jörg Später, der am Ende seiner Robert-Vansittart-Monographie über die Tiraden des britischen Deutschenhassers schreibt: „Seine Meinung über die Deutschen wurde zur Einsicht, weil die objektive Welt sich dem Bild näherte, das der Verfolgungswahn von ihr entwarf.“ Das klingt brillant, ist aber bloß Scheindialektik, weil das Handeln der Deutschen aus einem immanenten Geist erklärt wird, der im Verbrechen zu sich selbst kommt, anstatt Geist und Handlungen dialektisch mit ihrem internationalen Kontext zu verknüpfen.

Carl Schmitt schrieb – auf Verbrechen in den Revolutionen anspielend – zum Thema „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ 1948: „Es sind Gesinnungs-Verbrechen von der negativen Seite. Sie mußten mit dialektischer Notwendigkeit kommen, nachdem aus Humanismus die Gesinnungs-Verbrechen aus guter Gesinnung entdeckt worden waren. Mit anderen Worten: es sind die aus menschenfeindlicher Gesinnung entstandenen Taten, also: das, was der zum Feind der Menschheit Erklärte tut. Politisch im extremsten und intensivsten Sinne des Wortes.“

Die Erklärung Deutschlands „zum Feind der Menschheit“ erfolgte also schon lange vor der Machtergreifung des Nationalsozialismus. Für Historiker müßte es reizvoll sein, nachzuforschen, ob und inwieweit dadurch eine Situation begünstigt wurde, in der Verbrechen von der Art, wie man sie Deutschland im Ersten Weltkrieg fälschlich unterstellte, in die Tat umgesetzt wurden. Das wäre wissenschaftlich ergiebiger als das Klammern am Singularitäts-Postulat.

Fotos: Verschiedene antideutsche Propagandaplakate aus dem Ersten Weltkrieg: „Durch den Krieg seine Leidenschaft für die Tyrannei befriedigen“ (Clemenceau), Ernst Bloch beim 15. Schriftstellerkongreß 1954 in Berlin: Moralisches Weltparlament

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