© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/10 08. Januar 2010

„Eine Schande, das alles mitansehen zu müssen“
Auch die Beiträge von Emigranten in einem US-Preisausschreiben von 1940 widerlegen die These von der Kollektivschuld der Deutschen
Konrad Löw

Bücher haben ihre Schicksale“, besagt ein lateinisches Sprichwort. Wer „Nie mehr zurück in dieses Land“ gelesen hat, zweifelt nicht, daß die antike Spruchweisheit zumindest auf dieses Buch zutrifft, geht doch mit ihm eine Planung in Erfüllung, die siebzig Jahre zurückreicht und deren Initiator schon im August 1946 ermordet wurde.

„Mein Leben in Deutschland vor und nach dem 30. Januar 1933“,  lautet das Thema eines Preisausschreibens, das die US-Universität Harvard 1939 veranstaltete. Dazu heißt es: „An alle, die Deutschland vor und nach Hitler gut kennen! Zum Zweck rein wissenschaftlicher Materialsammlung, die für eine Untersuchung der gesellschaftlichen und seelischen Wirkungen des Nationalsozialismus auf die deutsche Gesellschaft und das deutsche Volk verwendet werden soll, stellen wir eintausend Dollar als Preis für die besten unveröffentlichten Lebensbeschreibungen zur Verfügung. (...) Das  Preisausschreiben schließt am 1. April 1940. (...) Bitte beschreiben Sie wirkliche Vorkommnisse, die Worte und Taten der Menschen … Die Preisrichter haben kein Interesse an philosophischen Erwägungen.“

Mehr als 250 Manuskripte wurden eingereicht. Die meisten stammen von deutschen Juden, die vor Hitler geflohen oder von ihm vertrieben worden sind. In Anlehnung an eine frühere Planung haben die Herausgeber eine Auswahl getroffen und sie unterteilt in „Der Terror“, „In den Lagern“, „Vor der Auswanderung“, jeweils sieben Beiträge.

Schon der erste Beitrag ist aussagekräftig und exemplarisch. Über seine Erlebnisse im Rheinland am 10. November 1938 – also Stunden, nachdem der von einem Juden angeschossene Sekretär der deutschen Botschaft Ernst vom Rath in Paris seinen Verletzungen erlegen ist, berichtet Hugo Moses, er sei von einem Polizeibeamten aufgesucht worden, der etwaige durch die Ausschreitungen verursachte Beschädigungen besichtigen sollte. „Kopfschüttelnd sagt er uns, als ich ihm die Kugelspuren der vergangenen Nacht zeigte: ‘Es ist eine Schande, das alles mitansehen zu müssen. Das wäre nicht passiert, wenn wir nicht in unseren Kasernen hätten bleiben müssen.’ Beim Herausgehen sagte der Beamte: ‘Hoffentlich war es das letzte Mal, daß Ihnen das passierte.’ Am nächsten Abend befürchtete man allgemein, daß sich die Vorgänge wiederholen würden. In dieser Nacht aber patrouillierte die Polizei unausgesetzt durch die Straßen, besonders in der Gegend der jüdischen Häuser. (...) Zwei Stunden später erschien ein anderer Polizeibeamter und sagte wörtlich zu mir: ‘Es tut mir leid, ich muß Sie als verhaftet erklären.’ (...) Vor meiner Haustür sagte der Beamte zu uns: ‘Gehen Sie bitte vor, ich folge Ihnen in größerem Abstand. Die Bevölkerung braucht nicht darauf aufmerksam zu werden.’ Auf der Polizeistation waren die Beamten fast alle sehr nett zu uns.“

Am 19. November 1938 war Moses wieder frei. „Zunächst in mein Geschäft. Tränenüberströmt kamen mir die Kolleginnen entgegengelaufen, auch in den Augen der männlichen Kollegen schimmerte es verdächtig. Erzählen, erzählen, reden und zuhören, berichten und lauschen.“ Auf der Eisenbahnfahrt nach Hause mußte er sich allerdings das Gespräch zweier Männer anhören, die sich an dem Pogrom ergötzt hatten.

Auch eine Marie Kahle kommt zu Wort, Frau eines Bonner Orientalisten: „Vom 11. (November 1938) an waren meine Söhne eifrig beschäftigt, den jüdischen Ladeninhabern beim Aufräumen ihrer Geschäfte zu helfen. Ich konnte mich ja nicht beteiligen, da ich die Stellung meines Mannes nicht gefährden wollte. Ich konnte nur die armen Leute besuchen. Bei einem dieser Besuche wurde ich mit meinem ältesten Sohn von einem Polizisten überrascht, der meinen Namen aufschrieb. Die Folge war ein Zeitungsartikel im Westdeutschen Beobachter, betitelt ‘Das ist Verrat am Volke – Frau Kahle und ihr Sohn halfen der Jüdin Goldstein bei Aufräumungsarbeiten’.“

Abgedruckt ist ein „Disziplinar-Urteil“, das eine der Konsequenzen veranschaulicht: „Der Studierende der Musikwissenschaften Wilhelm Kahle wird wegen des eines Studenten unwürdigen Verhaltens gelegentlich der Protestaktion gegen die jüdischen Geschäfte mit der Entfernung von der Hochschule (...) bestraft.“ 1939 gelang Familie Kahle – der Mann war sofort beurlaubt worden – die Emigration nach England.

Einer der drei Unterzeichner des Preisausschreibens war Edward Hartshorne, „die Seele des Unternehmens“, der das Ergebnis über den Abschlußbericht hinaus bearbeiten und dann veröffentlichen wollte. Offenbar hatten die Einsendungen in ihm die Erkenntnis reifen lassen: „Die Nationalsozialisten bildeten nämlich nur eine kleine verbrecherische Clique, welche die große schweigende Mehrheit tyrannisierte.“  Dabei wäre es doch naheliegend gewesen, daß die aus Deutschland vertriebenen oder geflohenen Juden an den „arischen“ Deutschen, also jenen, die keiner rassistisch motivierten Verfolgung ausgesetzt waren, kein gutes Haar lassen.

Die Spuren des Buchprojekts, dem Hartshorne den Arbeitstitel „Nazi Madness: November 1938“ gegeben hatte, verloren sich. Bei ihren Recherchen zu einer Hartshorne-Biographie entdeckte Uta Gerhardt vor wenigen Jahren das Konvolut. Nun als „Nie mehr zurück in dieses Land“ veröffentlicht, informiert es den an der historischen Wahrheit interessierten Leser mit aussagekräftigen Zeugnissen. Der Mord an Hartshorne wurde nie aufgeklärt. Kann es sein, daß es bei Kriegsende Kräfte gab, denen die Zeugenberichte nicht in ihr Bild des Deutschen paßten? Heute scheint es diese zu geben.

Der Buchtitel könnte nach dem Gebotenen auch ganz anders lauten,  etwa: „Zurück? Warum nicht, aber erst nach Hitler“ – entsprechend der Einsicht und dem Vorbild des Auschwitz-Häftlings Viktor Frankl.

 

Prof. Dr. Konrad Löw lehrte Politikwissenschaften an der Universität Bayreuth. Er ist Autor des Buches „‘Das Volk ist ein Trost’. Deutsche und Juden 1933–1945 im Urteil der jüdischen Zeitzeugen“ (München 2005).

 

Uta Gerhardt, Thomas Karlauf (Hrsg.): Nie mehr zurück in dieses Land. Augenzeugen berichten über die Novemberpogrome 1938. Propyläen Verlag, Berlin 2009, gebunden, 364 Seiten, 22,90 Euro

Foto: Zerstörtes jüdisches Geschäft im November 1938 in Magdeburg: Kleine verbrecherische Clique

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