© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/10 08. Januar 2010

Betrug am Verbraucher
Lebensmittelindustrie: Raffinierte Imitate lassen sich kaum von natürlichen Produkten unterscheiden / Schlechte Deklaration
Harald Ströhlein

Ob Analogkäse, „gestreckter“ Schinken oder andere scheußliche Lebensmittelplagiate: Trotz derzeitiger Novellierung des EU-Lebensmittelkennzeichnungsrechts sieht die Europäische Kommission keinen länderübergreifenden Handlungsbedarf, bestehende Vorschriften zu ändern. Wie in einer Stellungnahme zu lesen war, „haben die zuständigen nationalen Behörden alle Mittel in der Hand, um die vorsätzliche Irreführung von Verbrauchern zu vermeiden“. Damit warf noch vor Weihnachten die EU-Gesundheitskommissarin Androulla Vassiliou lapidar den Ball an Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner (CSU) und deren beiden Amtskollegen aus Österreich und Luxemburg zurück, die sich mit ihrer Anfrage eine schärfere Deklaration von Lebensmitteln und damit einen Schiedsspruch von oberster EU-Behörde erhofft hatten.

Witzigerweise war es ein Imitat, welches den Käse im wahrsten Sinne des Wortes ins Rollen brachte. Dabei rümpften wir mündige Verbraucher mehr als nur die Nasen, als offenbar wurde, daß der Einsatz von sogenanntem Analogkäse in der Lebensmittelherstellung gang und gäbe ist. Wie aus einer aktuellen Studie hervorgeht, tauchte das Laborprodukt aus Pflanzenfett, Eiweißpulver, synthetischen Farbstoffen und ebensolchen Geschmacksverstärkern seit 2008 verstärkt in Deutschland auf: etwa 20.000 Tonnen als vermeintlicher Käsegenuß auf Brötchen oder Pizzen. Das ist einerseits nicht viel, wenn man dem die jährliche Käseproduktion in einer Größenordnung von etwa zwei Millionen Tonnen gegenüberstellt. Andererseits ist bedenklich, wenn Marktanalysten von steigenden Einsatzmengen in der Verarbeitungsindustrie – dem eigentlichen Spielfeld für Käseplagiate – sprechen. Die Sorge der Milchbauern, die eine verschärfte Konkurrenz zu echten Milchprodukten befürchten, ist nicht von der Hand zu weisen.

Schinken aus Fleischfetzen, Stärke und Geliermitteln?

Käseimitate sind nicht grundsätzlich von Übel. So gibt es beispielsweise Menschen, die an Milchzuckerunverträglichkeit leiden. Andere verschmähen aus ethischen Bedenken tierische Produkte. Sie wollen gleichwohl auf Gaumenfreuden – wenn auch illusorische – nicht verzichten. Nur sollte der Verbraucher wissen und wählen dürfen, was er konsumiert – ob bei der Produktwahl vor einem Verkaufsregal oder an einer Fleischtheke, ob beim Verzehr in einer Imbißbude oder einem Fünf-Sterne-Gourmetpalast.

Dabei bildet der künstliche Käse nur die Spitze des Eisbergs. Und Imitate wie etwa Margarine oder Kunsthonig „bereicherten“ schon in und nach den Weltkriegen unser Lebensmittelangebot. Doch inzwischen gibt es trotz des preiswerten Überangebots an natürlichen Produkten sogar Schinkenkopien, die teilweise nur zur Hälfte aus winzigen Fleischfetzen bestehen und über eine Mischung aus Wasser, Stärke, Gelier- und Verdickungsmitteln zusammengeklebt werden. Es geht um Kaffee mit zugesetztem Karamel und dem Kohlenhydratgemisch Maltodextrin zur Geschmackverfeinerung.

Marmelade wird mit aus Algen gewonnenem Geliermittel versetzt, um einen cremigen Brotaufstrich zu gewährleisten. Es gibt Erfrischungsgetränke, deren „natürliche“ Aromen von Bakterien oder aus Holzabfällen stammen können. Bei verschiedenen Fruchtgummisorten wird das Ananasgelb durch den Azofarbstoff Tartrazin (E 102) erzeugt. Der Apfelgeschmack wird unter anderem via Essigsäureethylester (Äthylacetat/C4H8O2) und Hefeöldestillate simuliert. Und es gibt Kamillentee, der weniger aus Kamillenblüten als vielmehr aus einem chemischen Konglomerat mit Honig-, Vanille- und Sahnearoma besteht.

Angesichts dieser beliebig fortzuführenden Aufzählung von einer Täuschung des Verbrauchers zu sprechen, wäre eine Untertreibung. Es ist schlicht Betrug am Kunden. Dieser wäre nur über eine ehrliche und verständliche Lebensmittelkennzeichnung zu verhindern. Kurioserweise ist eine solche Deklaration längst vorgeschrieben, die auch strengstens überwacht wird: Sie gilt für Futtermittel für landwirtschaftliche Nutztiere.

Zweifelsohne bedarf es zudem der systematischen Überwachung insbesondere von Imbiß- und Gastronomiebetrieben sowie Lebensmittelfirmen und -importen. Eine amtliche Lebensmittelüberwachung ist in Deutschland zwar in Strukturen vorhanden, aber angesichts der angespannten öffentlichen Haushaltslage kann sie nicht flächendeckend agieren.

Um die mit Formfleisch belegte „Schinken-Pizza“ oder die mit Margarine bestrichene „Butter-Bretzel“ zu brandmarken, bedarf es weniger einer neuen Gesetzgebung als vielmehr Personal- und Sachmittel sowie nicht zuletzt einer konsequenten Exekutive. Ministerin Aigner ist gefordert. Sie muß ihren in der vergangenen Legislaturperiode gepflegten Schmusekurs beenden und endlich der omnipotenten Ernährungsindustrie den Fehdehandschuh hinwerfen – zum Nutzen der Verbraucher und nicht zuletzt der Landwirte.

Hinweise zu Lebensmittelimitaten finden sich unter anderem bei dem Verein Foodwatch: www.foodwatch.de

Foto: Pizza: Ist der Käse echt?

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