© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  01/10 01. Januar 2010

Wer oder was ist die „dunkle Materie“
Unterschiedliche astronomische Phänomene sind schwärzer als die Nacht / Einige sind in der Astrophysik unumstritten, andere nicht
Michael Manns

Dunkle Materie nicht nachgewiesen“, so lauteten Wissenschaftsmeldungen vor einigen Wochen über ein mysteriöses Phänomen im Kosmos. Das Universum und das Dunkle – diese Assoziation scheint für die Astrophysiker unwiderstehlich, wenn sie ihre abstrakten Modelle in Umgangssprache „übersetzen“. Ein kleines Schattenreich von Metaphern haben sie versammelt: Schwarze Löcher, Dunkle Energie, Dunkle Materie, Braune Zwerge. Doch die Assoziation von tiefer Nacht und Kosmos ist keine zufällige Formulierung, sie verweist auf archaisches Denken und Respekt vor unbegriffenen Mächten. In den Schöpfungsmythen spielen Nacht und Kosmos eine zentrale Rolle. Sie beschreiben jenen Übergang vom lichtlosen Urchaos zum geformten Sein. „Finsternis lag über dem Abgrund“, schreibt wuchtvoll die Genesis.

Definitionen der astronomischen Finsternis

l Schwarzes Loch. Es ist eines der dramatischsten Phänomene in der Kosmologie und so etwas wie der Star der Astrophysik. Es bringt uns aber auch an den Rand der Vorstellungskraft. 1965 prägt der US-Physiker John Archibald Wheeler den Begriff, der sich dann sogar in der Alltagssprache einbürgerte und mit einprägsamen Vergleichen angereichert wurde: „Staubsauger des Weltalls“, „Gefräßiges Monster“. Bei diesem astronomischen Objekt ist die Gravitation so stark, daß nichts mehr sich entfernen kann. Es müßte dem menschlichen Auge also als vollkommen schwarz erscheinen.

Schwarze Löcher sind Überreste von massereichen Sternen. Sie werden nach ihrem „Tod“ so stark zusammengepreßt, daß sie unendlich dicht sind. Das heißt, daß unendlich viel Materie sich in einem einzigen Punkt konzentriert. Die Anziehungskraft eines solchen toten Sterns ist so groß, daß noch nicht einmal das Licht aus ihm entkommen kann. Daher tragen die Schwarzen Löcher ihren Namen. Sie ziehen nicht nur Licht an, sondern verschlingen auch Materie, die in ihre Nähe kommt. Schwarze Löcher können sogar ganze Sterne „auffressen“. Wie kompakt und winzig ein Schwarzes Loch von einer Sonnenmasse ist, haben die Astrophysiker ausgerechnet: Würde die Erde als Schwarzes Loch enden, hätte sie einen Radius von 9 Millimeter.

l Dunkle Materie. Ihre Natur ist eines der größten Rätsel der Kosmologie und der Teilchenphysik. Der seltsame Stoff, aus dem 85 Prozent der Materie des Universums bestehen sollen, sendet kein Licht aus, absorbiert es aber auch nicht. Er macht sich nur über seine Gravitationswirkung auf normale Materie bemerkbar. Obwohl man bislang nur eine vage Vorstellung von der seltsamen Materieform hat, wird ihre Existenz nicht mehr bestritten. Mit ausgeklügelten Meßverfahren versucht man der Dunklen Materie ihre Geheimnisse zu entlocken, allerdings bislang mit mäßigem Erfolg. Daß es Dunkle Materie im Universum geben muß, folgt aus vielen Beobachtungen. Bereits in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts entdeckten Astronomen, daß die Gravitationskraft in den großen galaktischen Haufen wesentlich stärker ist, als es die beobachtete Materie erlaubt. Spiralförmige Galaxien wie unsere Milchstraße rotieren in den äußeren Bereichen so schnell, daß sie längst hätten auseinanderfliegen müssen. Daß dies bislang offenkundig nicht geschehen ist, dafür ist die Dunkle Materie verantwortlich, sie soll alles zusammenhalten.

l Dunkle Energie. Seit dem Urknall expandiert der Kosmos, und an sich sollte die gegenseitige Anziehung der Materie die Ausdehnung langsam abbremsen. Von wegen – der Kosmos wird immer schneller! Sechs oder acht Milliarden Lichtjahre entfernte Supernovae, also Sternexplosionen, die vor sechs oder acht Milliarden Jahren stattgefunden haben, zeigen, daß sich der Kosmos damals langsamer ausgedehnt hat als heute. Irgend etwas treibt den Kosmos immer schneller auseinander – eine Art Antigravitation. Manche meinen, dahinter müsse sich ein dynamisches Quantenfeld verbergen – die Quintessenz. Die Quinta Essentia war schon immer geheimnisumwittert. Die Griechen der Antike sahen in ihr den feinen Urstoff, das Subtile und Essentielle, das im Gegensatz zu Erde, Wasser, Luft und Feuer unfaßbare fünfte Element. Die Alchimisten des Mittelalters versuchten, die Quintessenz als reinstes Elixier zu destillieren. Jetzt plagt die große Unbekannte die Astrophysiker.

l Brauner Zwerg. Er ist kaum noch ein Stern – eher ein kosmischer Verlierer: Er hat weniger als zehn Prozent der Sonnenmasse und damit nicht genug Druck und Hitze im Inneren, um je die Fusion von Wasserstoff zu Helium in Gang zu setzen, den entscheidenden Prozeß, um Energie zu erzeugen. Man könnte ihn für eine Zwischenstufe zwischen Sternen und sehr massereichen Gasplaneten halten. Im heißesten Fall erreicht die Oberfläche eines jungen Braunen Zwerges Temperaturen an die 3.000 Grad. Schon während sie entstehen, kühlen Braune Zwerge ab. Ihre Leuchtkraft ist zehntausendmal geringer als die unserer Sonne. Kein Wunder, daß erst 1995 der erste Braune Zwerg entdeckt wurde. Doch seither hat man so viele entdeckt und erforscht, daß vermutet wird, Braune Zwerge könnten die große Mehrheit der Sterne im All sein.

Die Dramaturgie der kosmischen Farbenlehre verlangt auch das Helle. Wie im kosmogonischen Mythos muß es das Schattenreich besiegen. So folgt dem Schwarzen Loch also das Weiße. Während das Schwarze Loch Masse in sich aufnimmt, stößt das Weiße Loch Masse aus, so die Spekulation einiger Astrophysiker. Doch ein Weißes Loch würde fundamentalen Prinzipien widersprechen (dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik), und daher ist seine Existenz wohl nur hypothetisch.

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