© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/09-53/09 18./25. Dezember 2009

Jahresrückblick 2009: Weder verloren noch nervös ...
... nur etwas abgewrackt
Toni Roidl

Für den Spiegel ist es „Das verlorene Jahrzehnt“. Die Konkurrenz vom Focus titelt parallel „Das nervöse Jahrzehnt“. Geht’s noch größer? Reichen die 365 Tage 2009 nicht mehr? Was ist schon ein Jahrzehnt gegenüber zweitausend Jahre Hermannsschlacht? Noch vor dem Mauerfall war es „das“ Jubiläum des Jahres: Zweitausend Jahre Hermann der Cherusker. Doch statt nationalem Mythos reichte es nur für ein paar verkrampfte Pflicht-Beglückwunschungen. Dafür allerorten Empörung: Eine Kassiererin verliert wegen Unterschlagung von 1,30 Euro ihre Arbeit. Was müßten da einige Banker erst verlieren? Aber et hätt ja noch immer jot jejange – bis zum Einsturz des Stadtarchivs in Köln. Glück im Unglück: Die Trümmer begruben auch Oberbürgermeister Fritz Schramma.

„Abwrackprämie“ hat schon jetzt das Rennen um das Wort des Jahres gemacht. Das Modell fand viele Nachahmer außerhalb der Autobranche, zum Beispiel bei Stofftieren und alten Küchen – aber kaum im Bundestag und Länderparlamenten.

Zweimal Nazis als Kinospektakel: „Operation Walküre“ versus „Inglourious Basterds“. War doch klar, was Popkornmampfer und Kritiker lieber sehen. Im Fernsehen sieht man bald noch mehr Bettina Böttinger, denn am 1. April (leider kein Scherz) übernahm der WDR die Direktion des Senders Phoenix.

Im Mai stellt sich dann plötzlich heraus, daß Karl-Heinz Kurras in der Stasi diente. Was kommt als nächstes? Jürgen Trittin bei der Wikingjugend? Nächste Enthüllung: Rebecca K., das Skinhead-Opfer der Herzen, mußte ihren Zivilcouragepreis zurückgeben. Die meisten Europäer würden auch gerne den Lissabon-Vertrag zurückgeben. Vorübergehendes Aufatmen: Das Bundesverfassungsgericht stoppte das Kleingedruckte. Aber eben leider nur vorübergehend.

Die Studenten traten in den Bildungsstreik, weil ihnen die Uni Bolognese nicht schmeckt. Das kann man verstehen; andererseits sollten die Unis gegenüber linken AStA-Funktionären ruhig mit Aussperrung antworten.

Soviel Wahlkampf war noch nie: Das Superwahljahr 2009 brachte neben Dekolletés auch viel Realsatire auf Plakaten. Der Witz der Linkspartei: „Reichtum für alle!“ neben „Reichtum besteuern!“ Vom Lokalpolitiker bis zum MdB versuchten alle, Obama zu imitieren. Ein Wunder, daß sich niemand mit Schuhcreme aufpoliert. Doch die schönste Obama-Schlagzeile brachte mal wieder die Bild: „Yes, we gähn!“ (anläßlich des TV-Duells der Kanzlerkandidaten).

Das TV-Comeback des Jahres bot Harald Schmidt mit seiner Rückkehr als Lästerer vom Dienst. Doch selbst das Lästern der Kritiker verstummte, als der 52jährige Brausepulver aus dem Bauchnabel von Oliver Pochers Ex schleckte. Der wiederum nahm Rache und schenkte der Ex-Verlobten von Boris Becker, Sandy Meyer-Wölden, ein Kind. Was Bobele allerdings wenig kratzte. Der feierte mit viel Bumbum und Lilly die Hochzeit des Jahrzehnts.

Dann kam die übliche Grippewelle. Weil deshalb aber kaum jemand Impfstoff kauft, heißt das Event in diesem Jahr Mexiko-, äh Schweinegrippe. Damit die Seuche nicht ganz Deutschland entvölkert, half die Presse bei der Verkaufsförderung.

Mopedfahren ist nicht nur bei Straßenglätte gefährlich. Die Motorradclubs Hells Angels und Bandidos schießen sich gegenseitig aus dem Sattel. Dabei zeigt sich der wahre Wert der verschworenen Männergemeinschaften: Die Kumpels halten zu dir, wenn du in Schlamassel steckst, in den du ohne sie gar nicht hineingeraten wärst.

Thilo Sarrazin hat die gängige Definition von Zivilcourage falsch verstanden – ein Mißverständnis mit ungeahnt positiven Folgen. Eine positive Folge der Kaufhausschließungen bei den Traditionskonzernen Karstadt und Hertie könnte sein, daß die Konsumenten nun wieder beim privaten Einzelhändler kaufen. Aber das ist natürlich Wunschdenken.

Die Prinzen singen im Radio „Be cool, speak deutsch“. Westerwelle tut es – aber British journalists nix verstehen. Unverstanden fühlte sich auch Henryk M. Broder, weswegen er seine Kandidatur zum ZdJ-Chef gleich wieder zurückzog. Viel Rauch um Nichts.

Was oder wann der Volkstrauertag ist, weiß irgendwie kein Mensch mehr – doch Abertausende weinten kollektiv um Nationaltorwart Robert Enke. Und die Medien präsentierten im Breitwandformat die Trauerfeier für einen, der sich umbrachte, weil er den Erfolgsdruck der Öffentlichkeit nicht aushielt.

In Dresden bewies der Rechtsstaat, daß er noch kraftvoll zubeißen kann, wenn er nur will: Der Marwa-Mörder wurde zur Höchststrafe verurteilt, während in Magdeburg und Hamburg fast zeitgleich jeweils „Ehrenmörder“ die ganze Milde des Gerichts zu spüren bekamen.

Immerhin: Harald Schmidt sorgte kurz vor Toreschluß für Völkerverständigung und präsentierte einen christlich-islamischen Adventskranz (tannengrüner Kranz mit vier Minaretten statt Kerzen). Und Xavier Naidoo? Der liefert mit seinem Top-Ten-Titel der Charts 2009 das Motto für Kommendes: „Alles kann besser werden“.

Foto: Sinnbild der deutschen Autoindustrie 2009: Rein in den Schlamassel oder – auf zu neuen Ufern?

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