© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/09-53/09 18./25. Dezember 2009

Angst, was das Morgen bringt
ARD-Doku-Drama „Hungerwinter“: Die bittere Not der Bevölkerung im Nachkriegsdeutschland im Winter 1946/47
Michael Hofer

Wir ziehen auf endlosen Straßen, durch Tage und Nächte dahin, von Gott und den Menschen verlassen, ganz ohne Ziel, ganz ohne Sinn ...“ Hans Albers’ 1947 aufgenommenes „Lied der Flüchtlinge“ erklingt zu Dokumentaraufnahmen von Elendszügen zerlumpter Gestalten, die an den Ruinen zerstörter Städte vorbeiziehen. In der Wochenschau, die Albers beim Einspielen der Platte zeigt, präsentiert sich der strahlende Held zahlloser Ufa-Vehikel unrasiert, mit offenem Hemd und abgenutztem Anzug: Auch der Star ist nur ein Mann aus dem Volke, der an dem Schicksal von Millionen teilhat. Das bedeutete in der unmittelbaren Nachkriegszeit nichts weniger als den Kampf um das nackte Überleben. Albers’ Lied leitet stimmig das von der ARD produzierte Doku-Drama „Hungerwinter“ (Sa., 27. Dezember, 21.45 Uhr, ARD) ein, in dessen Mittelpunkt sechs exemplarische Einzelschicksale stehen.

Der titelgebende Winter 1946/47 zählte zu den kältesten des 20. Jahrhunderts überhaupt. Die Elbe und der Rhein froren auf viele Kilometer weit zu. Damit waren Binnenschifffahrt und Kohleversorgung lahmgelegt. Die Aufteilung des Landes in Besatzungszonen blockierte die Lieferwege. Die Städte lagen noch in Trümmern. Zusätzlich waren etwa zehn Millionen Flüchtlinge und Vertriebene zu versorgen. Dieser harte Winter soll Hunderttausende Tote gefordert haben.

Die Erfahrungen dieser Zeit haben ganze Generationen traumatisch geprägt – um so mehr, als viele der Betroffenen noch Kinder oder Jugendliche waren. „Ich habe erfahren, daß Hunger unaufhörlich Schmerzen erzeugt. Innere Schmerzen, seelische, körperliche Schmerzen“, berichtet der 1936 geborene Günther Kammeyer. „Man fühlt, du bist an einem Punkt angelangt, leben oder sterben.“ – „Hunger ist mit Angst verbunden“, berichtet Wilhelm Müller, Jahrgang 1925: „Angst, was das Morgen bringt, was mit einem selbst oder was mit der Familie wird.“ Martin Schneider war 1946 als Elfjähriger mitsamt seiner jüngeren Schwester drauf und dran, sich umzubringen. Die Mutter war nicht mehr imstande zu helfen: Nach mehrfacher bestialischer Vergewaltigung durch russische Soldaten war sie nur mehr ein seelisches und körperliches Wrack. „Die Bilder bleiben im Kopf, die werden Sie nie los“, sagt Schneider.

In den Gesichtern der Zeitzeugen spiegelt sich bis heute die Härte und der Lebensernst der Generation, die „nichts wegschmeißen kann“, weil sie sich immer noch an den lebensrettenden Wert von Kartoffelschalen und Hühnerfutter erinnert. Die Erinnerung an den Geruch von Brot oder Rotkohl, an waghalsige Unternehmungen, bei denen Fleisch und Kohle erbeutet wurden, an Weihnachtsmahle, bei denen es einen Löffel Suppe mehr gab als sonst, ist für viele so lebhaft präsent geblieben, als wären sie erst gestern dem Tod entronnen.

Zu dem Elend zählt auch die Erfahrung einer Welt, in der sich jeder selbst der Nächste und jeder des anderen Wolf ist. Die Kehrseite der Betrügereien, Diebstähle und Ruchlosigkeiten sind jedoch auch unvergeßliche Momente der Selbstlosigkeit, Aufopferung und gegenseitigen Hilfe. Selbst unter den härtesten Bedingungen blieben die Deutschen ein Kulturvolk mit strengen ethischen Regeln. Die heimlichen Diebestouren der Kinder wurden von vielen Familien oft nur unter Gewissensbissen geduldet. Die Mutter der Brüder Kammeyer arrangierte gar mit einem befreundeten Polizisten eine getürkte Verhaftung, um den Kindern einen Schrecken einzujagen. Berühmt wurde die Silvesterpredigt des Kölner Kardinals Frings, der dem Mundraub im dringenden Notfall seine Sanktion erteilte.

Wilhelm Müller erlebte als Sohn eines Richters die Unbestechlichkeit seines Vaters, der sich weder durch Lebensmittelspenden kaufen noch von den britischen Besatzern zu strengen Strafen für Verzweiflungstaten nötigen ließ. „Als wir uns nach 1945 durchmogelten, durchschwindelten, durchkungelten und die Besatzungsmacht betrogen, waren wir so intakt, so gesund, so preußisch wie dann nie mehr!“ schrieb Joachim Fernau in „Sprechen wir über Preußen“. „Wir lebten gegen etwas. Dieses Etwas war nicht nur die Not; es war die Schande, gegen die wir lebten. Das ist preußisch.“

Dem Leid und dem Lebenswillen dieser wohl letzten „preußischen“ Generation setzt „Hungerwinter“ ein bewegendes, dabei über weite Strecken unsentimentales Denkmal. Die „Illustration“ durch eingestreute Spielszenen, wie sie schon in Produktionen wie „Kinder der Flucht“ (JF 10/07) und „Damals nach dem Krieg“ (JF 7/08) eingesetzt wurden, ist diesmal optisch besonders eindrucksvoll gelungen.

„Hungerwinter“ folgt dem Trend: weg von der volkspädagogisch aufbereiteten „großen“ Geschichte, hin zu den „kleinen“, konkreten Geschichten der Durchschnittsmenschen, deren Erfahrungen lange genug unter dem Deckel von politisch korrekten Verallgemeinerungen gehalten wurden. Letztere wurden diesmal gar vollständig aus dem Film selbst ins Presseheft verbannt, wo sich die Worte vom angeblich allein „von Deutschland ausgehenden Angriffskrieg“ finden. Deren Ursprung kann der Zuschauer indessen in einem Ausschnitt aus einem US-„Demokratisierungs“-Film sehen, in dem versucht wird, den hungernden Deutschen mit dem Hinweis auf ähnliche Hungersnöte in anderen Ländern ein schlechtes Gewissen einzureden, da diese ja auch nur die Folge des „deutschen Kriegs“ seien. Die Deutschen der Nachkriegsjahre hatten aber wohl weder für Selbstmitleid noch für Schuldgefühle Zeit; beides bleibt den Enkeln vorbehalten, die sich zum Teil immer noch über die Kriegsgeneration moralisch erhaben fühlen. „Hungerwinter“ wird nicht nur sie eines Besseren belehren.

Fotos: Gemeinschaft im Elend: Gegenseitige Hilfe stand hoch im Kurs, Dreharbeiten: Eindrucksvolle Veranschaulichung durch Spielszenen, Der Kampf ums nackte Überleben: Die Erfahrungen dieser Zeit haben ganze Generationen von Deutschen traumatisch geprägt

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