© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/09 04. Dezember 2009

Meuchelmord am Todesstreifen
Freya Kliers beachtenswerte Biographie über den Selbstschußanlagen-Enthüller Michael Siegfried Gartenschläger
Jörg Bernhard Bilke

Wenn alles mit rechten Dingen zugegangen wäre in der Bonner Republik, dann hätte Michael Gartenschläger, nachdem er am 30. März und  23. April 1976 zwei Splitterminen an der innerdeutschen Grenze abgebaut und der Öffentlichkeit vorgeführt hatte, für seine mutige Tat mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet werden müssen.

Aber mit rechten Dingen ging es, wenn man humanitäre Kriterien anwendet, offensichtlich schon seit Jahren nicht mehr zu in der westdeutschen Beschwichtigungspolitik gegenüber dem SED-Unrechtsstaat, der, um seine Machtpositionen abzusichern, auch vor Mord nicht zurückschreckte und allein an der Berliner Mauer zwischen 1961 und 1989 kaltblütig und rücksichtslos 136 Flüchtlinge umbringen ließ.

Einer dieser Erschossenen – der nicht in Berlin, sondern in der Nacht des 30. April 1976 an der innerdeutschen Grenze bei Bröthen im Landkreis Lauenburg ermordet wurde – war der aus Strausberg bei Berlin stammende Autoschlosser Michael Gartenschläger. Im Alter von nur 17 Jahren wurde er 1961 zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe verurteilt und zehn Jahre später gegen 40.000 D-Mark freigekauft. Das Buch, das die 1950 in Dresden geborene und heute in Berlin lebende Autorin Freya Klier, die selbst zweimal inhaftiert war, über Michael Gartenschläger veröffentlicht hat, ist die bisher eindringlichste und gründlichste Aufarbeitung dieses ungewöhnlichen Lebenswegs, der schließlich im nächtlichen Kugelhagel endete.

Hier wird, wie schon in den beiden vorangegangenen Büchern über Pfarrer Oskar Brüsewitz (2006), der sich am 22. August 1976 auf dem Marktplatz von Zeitz verbrannte, und über den Jenaer Arbeiter Matthias Domaschk (2007), der im Untersuchungsgefängnis der Staatssicherheit in Gera am 12. April 1981 unter ungeklärten Umständen verstarb, die Biographie überzeugend mit der Zeitgeschichte verschränkt, dem Leser mit der Wucht einer griechischen Tragödie vor Augen geführt, daß der gewaltsame Tod schier unausweichlich war.

So wird die Beschreibung von Kindheit und Jugend in Strausberg, die am  19. August 1961 abrupt endete, der zehnjährigen Zuchthaushaft und den fünf Hamburger Jahren 1971/76 immer wieder durch acht eingeschobene Kapitel  über „Die innerdeutsche Grenze“ unterbrochen. In ihnen werden die inhumanen Praktiken des 1989 kollabierten SED-Staates beschrieben, wie die unselige „Staatsgrenze West“ immer unüberwindbarer gemacht wurde: durch Stacheldraht, Wassergräben, Todesstreifen, Spürhunde, Aussiedlung Tausender Grenzanwohner, die als „politisch unzuverlässig“ galten, und schließlich durch die Installierung von 60.000 Splitterminen („SM-70“) zwischen Hof und Lübeck, deren Existenz die DDR-Führung vehement bestritt. Diesen Vorgang, ein in tausend Jahren gewachsenes Volk mit Gewalt zu teilen, hat der Lyriker Bernd Jentzsch in seinem Gedicht „Ein Wiesenstück“ (1978) bitter beklagt.

Der am 13. Januar 1944 geborene Michael Gartenschläger und seine sechs Jahre ältere Schwester Christa wuchsen in Strausberg, wo seit 1956 das DDR-Ministerium für Nationale Verteidigung seinen Sitz hatte, auf wie andere DDR-Jugendliche auch. Die Eltern, die eine Gastwirtschaft betrieben, wollten ihrem Sohn den Berufsweg nicht verbauen und ließen ihn 1958 an der staatlich erwünschten Jugendweihe teilnehmen, die von der Evangelischen Kirche angebotene Konfirmation wurde im Jahr darauf nachgeholt. Schlosserlehrling Michael und seine vier Freunde, die sich die „furchtlosen Fünf“ nannten, hörten gemeinsam Westmusik, schwärmten für den West-Berliner Sänger Ted Herold, trugen „Nietenhosen“, wie die heiß begehrten Jeans DDR-offiziell bezeichnet wurden, um ihnen den amerikanischen Beigeschmack zu nehmen, und fuhren oft gemeinsam nach West-Berlin, um einzukaufen und ins Kino zu gehen.

Das alles war nicht verboten, aber unerwünscht und für ein Leben im „Arbeiter- und Bauernstaat“ nicht gerade förderlich. Gerd Resag, der Ärger mit seinen Eltern hatte, floh 1960 sogar nach West-Berlin und ging für drei Tage ins Lager Marienfelde, von wo ihn sein entsetzter Vater nach Strausberg zurückholte. Die Erweiterte Oberschule dort durfte er nicht mehr besuchen, sondern wurde strafversetzt ins Internat „Karl Marx“ auf den Seelower Höhen an der Oder, in eine „politische Vorzeigeschule“. Dieser Schule wurde er schließlich auch verwiesen mit dem Vermerk, nirgendwo mehr eine DDR-Oberschule besuchen zu dürfen.

Hier glitt der jugendliche Widerstand gegen Staat und Eltern, wie er überall vorkommt, hinüber ins Politische. Denn nach dem Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 wurden die fünf jungen Strausberger aktiv. Am 14./15. und 18. August schrieben sie antikommunistische Losungen an Häuserwände, am 16. August zündeten sie bei Wilkendorf, wo das Verteidigungsministerium sein Gästehaus hatte, eine mit Heu gefüllte Feldscheune der LPG „Einheit“ an, was einen Schaden von 50.000 DDR-Mark ausmachte, am 19. August wurden sie schließlich verhaftet. Der Schauprozeß vor dem Bezirksgericht Frankfurt/Oder gegen die fünf „Staatsverbrecher“, wie die Deutsche Lehrerzeitung vom 19. September 1961 schrieb, wurde am 13. September im Kultursaal der Nationalen Volksarmee in Strausberg eröffnet.

Daß der Bezirksstaatsanwalt am 14. September vor 120 Zuhörern für die Hauptangeklagten Michael Gartenschläger und Gerd Resag die Todesstrafe fordern würde, war nicht vorherzusehen. Nur weil die Angeklagten noch minderjährig waren, wurde sie am 15. September bei der Urteilsverkündung in lebenslange Haft umgewandelt.

Diese Todesstrafe aber wurde schließlich doch noch vollstreckt – anderthalb Jahrzehnte später, in der Nacht vom 30. April zum 1. Mai 1976. Die vier Todesschützen einer 29köpfigen Einsatzgruppe aus Erich Mielkes Ministerium für Staatssicherheit, die am 24. April gegründet worden war, operierten schon seit Tagen vor dem Grenzzaun, also bereits auf bundesdeutscher Seite. Sie waren durch einen Denunzianten aus Michaels Freundeskreis informiert worden, daß er irgendwann im Grenzgebiet auftauchen wollte. Er hatte eigentlich geplant, an einem anderen Grenzabschnitt, achtzig Kilometer entfernt, eine dritte Splittermine abzubauen, wollte jetzt nur sein im Wald verstecktes Werkzeug und die Leiter abholen. Dabei kam ihm der tollkühne Gedanke, eine weitere Mine zur Explosion zu bringen, um „öffentliche Aufmerksamkeit zu wecken“ – da wurde er ohne Anruf und Warnschuß niedergestreckt. Sein von 120 Schüssen durchsiebter Körper wurde am 10. Mai 1976 als „unbekannte Wasserleiche“ auf dem Schweriner Waldfriedhof beigesetzt, die vier Todesschützen wurden nach erfülltem Mordauftrag mit dem 1966 gestifteten Kampforden für Verdienste um Volk und Vaterland in Silber ausgezeichnet.

Der Mord blieb auch nach der friedlichen Revolution vom 9. November 1989 ungesühnt. Eine juristische Aufarbeitung gab es nur ansatzweise: Stasi-Oberstleutnant Wolfgang Singer, unter dessen Befehl die Todesschützen gestanden hatten, wurde 1999 vom Landgericht Schwerin, wo Michael Gartenschlägers Tochter Christa an der Köckeritz als Nebenklägerin auftrat, schuldig gesprochen, blieb aber straffrei, da die Tat inzwischen verjährt war. MfS-Oberst Helmut Heckel, der den Mordbefehl erteilt hatte, und MfS-Generalleutnant Karl Kleinjung (1912–2003) wurden freigesprochen, auch im Berufungsverfahren 2003, das die Staatsanwaltschaft erwirkt hatte. So war auch hier, wie in vielen anderen Fällen, die deutsche Justiz von „beschämender Nachsicht“. Und auch der 2006 von Freunden eingebrachte Antrag, in Strausberg eine Straße nach Michael Gartenschläger zu benennen, wurde von der Stadtverordnetenversammlung abgeschmettert.

Freya Klier: Michael Gartenschläger. Kampf gegen Mauer und Stacheldraht, Bürgerbüro Berlin 2009, broschiert, 160 Seiten, 12,50 Euro

Foto: Michael Gartenschläger Mitte der siebziger Jahre an der innerdeutschen Grenze: Seine Ermordung blieb nach 1989 ungesühnt

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