© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/09 04. Dezember 2009

Im Jugendzimmer eines Verführers
Vieles bleibt doch Spekulation: Dirk Bavendamms Annäherung an die Lebenswelt des „jungen Hitler“
Thomas Bachmann

Jede neue biographische Studie über Adolf Hitler steht angesichts der Fülle der zu diesem unerfreulichen Thema bereits vorhandenen Literatur zunächst einmal unter dem Verdacht, daß sich auch auf sie ein beliebter Kalauer anwenden läßt: Über den „Führer“ ist zwar schon alles gesagt worden, aber eben noch nicht von allen. Selbst der über 1.700 Seiten mäandernden Biographie von Ian Kershaw, die manche für ein Standardwerk halten, ist diese Kritik nicht erspart geblieben. Brav und bieder puzzelt sie zusammen, was als mehr oder weniger gesicherte Erkenntnis gilt. Mehr als ein Fleißwerk stellt sie aber eben nicht dar.

Großer Fleiß ist auch Dirk Bavendamm zu attestieren, der über die ersten 25 Lebensjahre Hitlers, in denen dieser als vagabundierender Nobody nur spärliche Spuren hinterließ, einen regelrechten Wälzer zu Papier gebracht hat. Darüber hinaus ist diesem renommierten Autor wichtiger zeitgeschichtlicher Bücher manch anderes zugute zu halten: So verfügt er über die Phantasie und die Durchhaltefähigkeit eines Kriminalisten, der dürftige Indizien zu einem plausiblen Gesamtbild zusammenfügen muß. Schließlich gibt er sich als jemand zu erkennen, der nicht allein in der politischen Geschichte der späten österreichisch-ungarischen Monarchie zu Hause ist, sondern auch ihr schillerndes Geistesleben durchdringt. Und nicht zuletzt besticht Bavendamm erneut als Autor, der wissenschaftliche Akribie mit journalistischer Brillanz zu vereinen versteht.

Damit ist jedoch leider das meiste aufgezählt, was sich diesem unter dem Strich eher enttäuschenden Buch an Positivem nachsagen läßt. Bavendamm hat viel Zeit für ein Projekt geopfert, das, wie er in seinen Vorbemerkungen eingesteht, eine andere Richtung nahm als ursprünglich beabsichtigt. Die überaus dürftige Quellenlage zum „jungen Hitler“ hat er allenfalls unwesentlich verbessert. Seine Recherchen zeitigten kaum signifikant neue Ergebnisse, und die Präsentation vieler trivialer Details versetzt den Leser nur selten in Erstaunen.

So präsentiert Bavendamm beispielsweise die Bestätigung dessen, was bisher nur vermutet werden durfte: Gustav Mahler stand am 8. Mai 1906 tatsächlich am Dirigentenpult, als die Wiener Hofoper Wagners „Tristan und Isolde“ gab – und Hitler war, wie er in einer Ansichtspostkarte am Vortag angekündigt hatte, vermutlich zugegen. Andererseits ist es, so Bavendamm, äußerst unwahrscheinlich, daß Jung-Adolf trotz seiner Wagner-Begeisterung wirklich alles verschlungen hätte, was zum Meister von Bayreuth damals maßgeblich gewesen ist: Die Biographien von Karl F. Glasenapp, Fritz Muncker und Houston Steward Chamberlain waren jedenfalls, so eine E-Mail vom Leiter der Oberösterreichischen Landesbibliothek, Christian Enichlmayr an den Verfasser vom 21. November 2001, in den Beständen der Linzer Bibliotheken gar nicht gelistet.

Über die ideengeschichtlichen Zusammenhänge hinaus rekonstruiert Bavendamm aber auch das Alltagsleben des seiner wie auch immer gearteten Mission schon so früh bewußten späteren „Führers“ akribisch: So erfährt der Leser, daß Hitler und sein Kumpan August Kubizek in der Zeit ihrer Wohngemeinschaft in Wien, Stumpergasse 31, zweite Stiege, Kellergeschoß, Tür Nr. 17 zur Verrichtung ihrer Notdurft das WC im Treppenhaus aufzusuchen pflegten. Wie mag es auf diesem gerochen haben, oder welche Auswirkungen hatte dieser – damals übrigens völlig normale – Zustand auf spätere Missetaten Hitler? Fragen über Fragen.

Manchmal biß Bavendamm in seinen Nachforschungen jedoch schlicht auf Granit, manchmal wiederum hat er wohl die Lust verloren, Dingen weiter auf den Grund zu gehen, da sich die Ahnung einstellte, daß sowieso nicht viel dabei herauskommen könnte. In erster Linie profitiert er in seinen Analysen davon, daß letztlich alle relevanten Hitler-Biographien der Jugend ihres Protagonisten nur geringe Aufmerksamkeit schenkten und wenig Penibilität in der Auswertung der Quellen sowie der Prüfung ihrer Aussagen auf Konsistenz an den Tag legten. Hier bietet Bavendamm in der Tat eine bislang unerreichte Sorgfalt. Da die wichtigsten Quellen entweder apologetischer oder agitatorisch-feindseliger Natur sind oder einfach von Wichtigtuern stammen, bleibt aber alles, was interessant sein könnte, auch bei ihm letztlich oft der Spekulation überlassen. In dieser verfährt er manchmal sehr eigenwillig, insbesondere, was die Exegese des wohl von einem Autorenkollektiv unter Steuerung Hitlers verfaßten Pamphlets „Mein Kampf“ betrifft. Mal zieht er die Authentizität der hier festgehaltenen Erinnerungen in Frage, mal beruft er sich auf sie.

Hätte es Bavendamm damit bewenden lassen, wäre ein schmales Bändchen herausgekommen, das den Quellennotstand nicht behebt, aber das, was bekannt ist, sichtet und mit zum Teil neuen Vermutungen vereint. Dies war ihm jedoch nicht genug, und so bietet er darüber hinaus ein üppiges Panorama von Politik und Kultur der Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg, in welches er den damals noch kleinen und unbedeutenden Hitler irgendwie einbaut.

An einem Porträt dieser Zeit haben sich schon viele andere versucht, und nicht wenige von ihnen, allen voran Brigitte Hamann, sind dabei zu weitaus überzeugenderen Ergebnissen gelangt. Welche Facetten des „Zeitgeists“ der junge Hitler tatsächlich wahrgenommen und wie tiefschürfend er sich mit diesen auseinandergesetzt hat, geht jedoch auch bei Bavendamm selten über ein Hätte, Könnte, Dürfte, „Es ist naheliegend, daß“ hinaus. Der Frage, inwieweit Erkenntnisse über den „jungen“ Hitler demnach überhaupt etwas zur Erklärung des „alten“ beitragen könnten, ist damit jedoch nur schwer beizukommen.

Dirk Bavendamm: Der junge Hitler. Korrekturen einer Biographie 1889–1914; Ares Verlag, Graz 2009, gebunden, 592 Seiten, 29,90 Euro

Fotos: Ganz junger Hitler, Elfjähriger Hitler skizziert „unser Zimmer“: Der Jugend bisher nur geringe Aufmerksamkeit geschenkt

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