© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/09 27. November 2009

Unter Vormundschaft
Verweser des Bösen: Wie die Karlsruher Entscheidung zum Paragraphen 130 zu deuten ist
Thorsten Hinz

Das Bundesverfassungsgericht hat den Paragraphen 130 (Volksverhetzung), Abschnitt 4, Strafgesetzbuch (StGB) für verfassungskonform erklärt. Es widerspricht demnach nicht Artikel 5 des Grundgesetzes (Meinungsfreiheit), wenn verkündet wird: „Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer öffentlich oder in einer Versammlung den öffentlichen Frieden in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise dadurch stört, daß er die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt.“

Der Paragraph 130 StGB betrifft auch die Holocaust-Leugnung bzw. -Verharmlosung. Ihr Urteil ist ein politisches, wie die Richter mehr oder weniger einräumen. Es gehorcht einem geschichtspolitischen Dezisionismus, der ab 1945 oktroyiert, dann akzeptiert und verinnerlicht worden ist und der heute die bundesrepublikanische Staatsräson bestimmt.

Das schlechte Gewissen der Verfassungsrichter ist mit Händen zu greifen. Zunächst legen sie ausführlich dar, warum dieses Gesetz eigentlich unmöglich ist. Gesetze dürfen keine Sondergesetze sein, sie müssen eine „rechtsstaatliche Distanz durch Meinungsneutralität“ wahren. Sie dürfen nicht zu „einer Benachteiligung oder Bevorzugung wegen politischer Anschauungen“ führen. Die Richter stellen eindeutig fest, daß der monierte Paragraph ein „Sonderrecht“ statuiert, denn: „Die Vorschrift pönalisiert (stellt unter Strafe – Th. H.) Meinungsäußerungen, die sich allein aus einer bestimmten Deutung der Geschichte und einer entsprechenden Haltung ergeben können.“

Um das Gesetz dennoch zu rechtfertigen, begibt sich Karlsruhe auf das brüchige Eis der Geschichtsspekulation. Es unterstellt in teilweise lyrischen Wendungen die „Einzigartigkeit“ der NS-Verbrechen. Diese setze dem Artikel 5 des Grundgesetzes, der die Meinungsfreiheit verbürgt, eine „immanente“ Schranke und erlaube „eine Ausnahme vom Verbot des Sonderrechts“. Das NS-Regime habe „für die verfassungsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland eine gegenbildliche identitätsprägende Bedeutung, die einzigartig ist und allein auf der Grundlage allgemeiner gesetzlicher Bestimmungen nicht eingefangen werden kann“. Man gewinnt den Eindruck, daß die Verfassungsrichter vor der Beschlußfassung einen Geschichtskurs bei Joschka Fischer absolviert haben, der Auschwitz als den „Gründungsmythos“ der Bundesrepublik bezeichnete.

Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) freut sich über die „Signalwirkung“ des Urteils weit über den konkreten Fall hinaus. Tatsächlich ist es geeignet, weitere Sondergesetze anzuregen, denn der Anzahl der Lehren, die sich aus der NS-Zeit ziehen lassen, sind keine Grenzen gesetzt. Anzeigen wegen „Volksverhetzung“ erfreuen sich zunehmender Beliebtheit und ersetzen die politische Diskussion.

Wir befinden uns in einer Entwicklung, die der Jurist Ernst Fraenkel als den Konflikt und das Zusammenspiel von „Normenstaat“ und „Maßnahmestaat“ beschrieb. Der Normenstaat repräsentiert die rechtsstaatliche Tradition und mißt auch das politische Handeln an seiner Gesetzeskonformität, der Maßnahmestaat dagegen beurteilt die Gesetze danach, ob sie politisch zielführend sind. Nötigenfalls überformt er den Normenstaat oder setzt ihn ganz außer Kraft – zum Beispiel durch Sondergesetze. Als nächstes könnte die Kritik am Antifaschismus und Multikulturalismus, an der Holocaust-Religion, der Gleichstellungs-, EU- und Klima-Ideologie sowie an der Verknüpfung von deutscher und israelischer Staatsräson unter Strafe gestellt werden. Auch die Aburteilung von Islamisierungskritikern nach Paragraph 130 StGB rückt in den Bereich des Vorstellbaren.

Das alles wissen die Karlsruher Top-Juristen selbst. Der Grund für ihre haarsträubende Entscheidung (1 BvR 2150/08) ist schlichtweg der: Unter politischem Druck stehend, haben sie keine andere gewagt! Eine gegenteilige Entscheidung hätte „nicht zuletzt auch im Ausland tiefgreifende Beunruhigung“ ausgelöst. Die Formulierung des Gerichts zielt nicht nur auf temporäre Stimmungen, sondern auf die „geschichtlich begründete Sonderkonstellation“ Deutschlands. Das Urteil führt an, wodurch diese markiert ist: durch die Atlantik-Charta, das Potsdamer Abkommen, das Kontrollratsgesetz Nr. 2 zur Auflösung der NS-Organisationen, durch die Frankfurter Dokumente, in denen die westlichen Militärgouverneure die westdeutschen Ministerpräsidenten mit der Ausarbeitung einer Verfassung beauftragten.

Kurzum, die Gründung der Bundesrepublik 1949 war keine souveräne Staatsgründung aus eigenem Recht, und sie wurde 1990 auch nicht nachgeholt. Die Bundesrepublik besitzt daher nicht einmal eine annähernde Verfügungsgewalt über die Interpretation ihrer Geschichte. Die Atlantik-Charta etwa, die US-Präsident Roosevelt und der britische Premier Churchill am 14. August 1941 verkündeten, war für den nach dem 20. Juli 1944 hingerichteten Ulrich von Hassell (laut Tagebucheintrag vom 18. August 1941) ein Beleg dafür, daß die „Identifikation Naziregime = Deutschland in den letzten Monaten reißende Fortschritte gemacht hat“. Dieses geschichtspolitische Monster zeugt sich fort und gebiert real- und rechtspolitische Ungeheuer. Wobei die deutsche Psyche inzwischen derart neurotisiert ist, daß eine Unterscheidung, ob die angeblichen Erwartungen des Auslands real, eingebildet oder sich selbst erfüllende Prophezeiungen sind, gar nicht mehr getroffen werden kann.

Interessant ist ein Vergleich des aktuellen Karlsruher Urteils mit dem Verbotsurteil gegen die KPD von 1956. Die KPD hatte damals argumentiert, ihr Verbot sei unzulässig, weil das BRD-Grundgesetz dem Potsdamer Abkommen verpflichtet sei. Im Sinne dieses Abkommens sei die KPD eine gegen das NS-Regime gerichtete, „antifaschistische“ und von den Siegermächten lizensierte Partei. Das Gericht setzte dagegen das Recht der Bundesrepublik, ihre inneren Angelegenheiten antitotalitär, ohne antifaschistische Auflagen von außen zu gestalten: „In der Völkerrechtslehre ist umstritten, ob unter besonderen Voraussetzungen durch völkerrechtliche Abmachungen einem am Vertragsabschluß nicht beteiligten Staat verbindliche Auflagen gemacht werden können.“

Unter den Bedingungen des Kalten Krieges, als der Westen die Bundesrepublik als Glacis gegen die Sowjetunion benötigte, durften solche Ausflüge in die Souveränität gewagt werden. Nachdem das sowjetische Imperium zusammengebrochen und Deutschland nur noch von Freunden umgeben ist, kehrt es in seine Rolle als Verweser des welthistorisch Bösen zurück, der unter fürsorglicher Vormundschaft steht. Wie das Karlsruher Urteil zeigt, nimmt es diese Funktion inzwischen auch höchstrichterlich an.

Foto: Richter am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe: Unter politischem Druck stehend, haben sie keine andere Entscheidung gewagt

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