© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/09 27. November 2009

Nationalstaat und gesellschaftlicher Frieden
Unser gutes Recht
von Karl Doehring

Bedarf der moderne Staat noch der kulturellen Homogenität? Die Beantwortung dieser Frage muß mit derjenigen nach dem Schicksal des Nationalstaats in der Staatengemeinschaft beginnen. In der Nachkriegszeit zunächst und dann immer stärker wurde eine Tendenz sichtbar, den Nationalstaat als überholt zu betrachten. Vor allem in Deutschland war das zu bemerken. Die Gründe sind bekannt. Das „Dritte Reich“ hatte die Nationalstaatsidee pervertiert, so daß nach dessen Niederlage die Volkszugehörigkeit zu einem fragwürdigen Bezugspunkt verkam. Die Zusammenführung und Einigung Europas galt, jedenfalls für Deutschland, als Zuflucht aus dem Verlust nationalen Selbstbewußtseins.

In anderen europäischen Staaten lagen die Dinge ein wenig anders. Es bestand dort weiterhin ein lebendiges Nationalgefühl gepaart mit der richtigen Überzeugung, daß ein Zusammenleben der Staaten wegen der Unmöglichkeit der isolierten Selbstbehauptung notwendig sei. In Deutschland überwog weitgehend dieser zweite Gesichtspunkt, und das auch trotz der Wiedervereinigung Deutschlands 1990. Es galt vielen als in gewisser Weise unfein, das eigene Land mehr zu lieben als andere Länder, und es galt vielen als nahezu unanständig, der deutschen Kultur einen besonderen und für den deutschen Staatsbürger zu beachtenden Wert einzuräumen. Wer das dennoch tat, lief Gefahr, der Ausländerfeindlichkeit, des Nationalismus und gar des Neo-Faschismus bezichtigt zu werden. Modern wurde das Weltbürgertum, beruhend auf Globalisierung, neuer Weltwirtschaftsordnung und Kulturvermischung bis hin zu einem sich als Toleranz verstehenden kulturellen Werterelativismus.

Es scheint, daß diese Haltung an Boden verliert. Die Weltwirtschaftskrise, beginnend mit dem Jahr 2008, belehrte die Staaten, insbesondere Deutschland, erneut darüber, daß in der befürchteten Not die Selbstbesinnung auf die eigenen Kräfte verläßlicher ist als die Wunschvorstellung, alle Weltbürger würden sich nun altruistisch gegenseitig am Schopf aus dem Sumpf ziehen. Staaten, deren Völker ihr gesundes Nationalgefühl weitgehend bewahrt hatten, fiel das nicht so schwer. Aber Deutschland? Es wird in Zukunft mental umschalten müssen, denn die Europäische Union ist noch nicht so weit, die Selbsthilfe zu ersetzen.

Wenn es richtig ist, daß eine Art von „Postmoderne“ das Besinnen auf die eigene Staatsidentität wieder notwendig erscheinen läßt, ergibt sich alsbald auch die Frage nach der Notwendigkeit einer – durchaus nicht feindlich gemeinten – Abgrenzung der staatlichen Gemeinschaft im Sinne der Identifizierung mit eigenen Wertvorstellungen, die vielen anderen Staaten nie verlorenging.

Auch und gerade eine gesunde Staatlichkeit war immer gepaart mit einer von der Mehrzahl der Staatsbürger bejahten kulturellen Homogenität der Gemeinschaft. Eine solche Homogenität ist im Grunde als gemeinsame Lebensgrundlage der Bürger immer bejaht worden, und zwar weltweit. Das multikulturelle Denken hat das kulturelle zeitweilig verdrängt, aber, wie sich zeigt, nicht ausgelöscht, liegt es doch in der Natur der Sache, wenn man eine befriedete Gemeinschaft wünscht.

Eine menschliche Gemeinschaft kann nur unbeschädigt bleiben, wenn sie durch gemeinsames Wertebewußtsein zusammengehalten wird. Das ist ein Gedanke, der auch dem europäischen Zusammenschluß immanent ist. Seit die Welt sich zu einer „Staatenwelt“ gewandelt hat, also seit der Organisation in Territorialstaaten in der beginnenden Neuzeit, entstand der Wunsch der Völker zur Wahrung ihrer Homogenität, und letztlich war dieser der Motor der Staatsentstehung, auch wenn diese zunächst von den Fürsten ausging. Sich gegen Überfremdung zu wehren, war selbstverständlich.

Dort, wo Einwanderung gewünscht wurde, stand sie doch unter dem Vorbehalt der Assimilierung. Auch wenn Friedrich der Große (1712–1786) Salzburger und Hugenotten in seinen Staat aufnahm, waren diese immer bereit, das preußische Wertebewußtsein zu akzeptieren, und zwar in einer durchaus nachhaltigen Weise.

Vor über hundert Jahren stellte das Institut de Droit International, die weltweit wohl bedeutendste Juristenvereinigung, in einer Resolution fest, daß ein Staat Zuwanderung begrenzen darf, wenn anders eine Überfremdung seiner Kultur zu befürchten sei. Einer der Gründe, diese Zulassung abzulehnen, kann und darf auf der Besorgnis beruhen, es liege eine „différence fondamentale“ (grundlegender Unterschied) der Sitten vor oder eine „accumulation dangereuse d’étrangers“ (gefährliche Anhäufung von Fremden).

Einer der Gründe, Zuwanderung abzulehnen, kann und darf auf der Besorgnis beruhen, es liege ein grundlegender Unterschied der Sitten vor oder eine gefährliche Anhäufung von Fremden, stellte das Institut de Droit International schon vor hundert Jahren fest.

Nach Beendigung des Ersten Weltkriegs wurden durch die Pariser Vorortverträge neue Grenzen in Europa gezogen, und zwar bewußt solche, die homogene Volksgruppen beachteten. Da das nicht immer gelang, wurde ein Minderheitenschutzsystem eingerichtet, das dann wiederum die Homogenität kleinerer Gemeinschaften schützen sollte. So wurde der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn aufgelöst, so entstand aus dessen Erbmasse die Tschechoslowakei  (deren sprachlich und kulturell einander so ähnliche Staatsvölker dann seit 1993 getrennte Wege gehen).

Dieser Respekt vor kultureller Homogenität von Volksgruppen kam insbesondere dadurch zum Ausdruck, daß das Selbstbestimmungsrecht der Völker und Nationen, zunächst nach dem Ersten Weltkrieg nur ein politisches Prinzip, zu einem Rechtsanspruch erhoben wurde, der Eingang in die Charta der Vereinten Nationen fand. Auf dieser Grundlage erhöhte sich die Zahl der Staaten von etwa 80 auf 200. Die Grundlage dieses Selbstbestimmungsrechts bildete der Gedanke, daß Frieden unter den Völkern nur garantiert sei, wenn die Wünsche nach kultureller Homogenität respektiert würden. Letztlich wurde so auch die Wiedervereinigung Deutschlands hergestellt, da wieder zusammenwachsen konnte, was (kulturell) zusammengehörte.

Dieses Selbstbestimmungsrecht, bekräftigt auch in den Bestimmungen der Menschenrechts-Konventionen der Vereinten Nationen von 1966, erhielt präzisen Ausdruck dann in der „Friendly Relation Declaration“ der Generalversammlung der Vereinten Nationen von 1970, in der es heißt, daß keinem Staat das Recht abgesprochen werden kann, sein eigenes kulturelles System zu bewahren. Gegen Einmischungen von außen kann er sich zur Wehr setzen – Intervention, die diese Selbstbestimmung hindern würde, ist verboten.

Gerade auch für das Recht der Staaten, sich gegen Einwanderung zu schützen, welche die kulturelle Homogenität des Staatsvolkes gefährden würde, ist das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (kurz: UN-Rassendiskriminierungskonvention) aufschlußreich (Bundesgesetzblatt 1969 II S. 961). Dort heißt es in Teil 1, Artikel 1 einschränkend, daß das Recht, die Einwanderung zu regeln, nicht an der Konvention zu messen ist: „Dieses Übereinkommen findet keine Anwendung auf Unterscheidungen, Ausschließungen, Beschränkungen oder Bevorzugungen, die ein Vertragsstaat zwischen eigenen und fremden Staatsangehörigen vornimmt“ (Absatz 2). Ausdrücklich erfaßt das Übereinkommen nicht die Belange von Einwanderung und Einbürgerung. So bestimmt Absatz 3: „Dieses Übereinkommen ist nicht so auszulegen, als berühre es die Rechtsvorschriften der Vertragsstaaten über Staatsangehörigkeit, Staatsbürgerschaft oder Einbürgerung, sofern diese Vorschriften nicht Angehörige eines bestimmten Staates diskriminieren.“

Für die Entstehung Europas im Hinblick auf die kulturelle Homogenität seiner Mitglieder ist folgendes festzustellen: Die Verträge über die Europäische Union erklären, daß der Wunsch bestehe, die Solidarität zwischen den Völkern unter „Achtung ihrer Geschichte, ihrer Kultur und ihrer Tradition“ zu stärken. Sodann wird auf die gemeinsamen Werte hingewiesen, aber auch betont, daß die jeweilige nationale Identität der Mitgliedstaaten zu achten sei. So wird auch hier die kulturelle Homogenität der Staaten bekräftigt. Ohne diese Zusicherung wäre wohl auch der Vertrag von Lissabon nicht zustande gekommen.

Kein Staat ist gehindert, auf eine solche Homogenität zu verzichten beziehungsweise sie zu vernachlässigen. Aber ob solch ein Staat dann lebensfähig bleibt, erscheint mehr als fraglich. Mit einem heute gerade in Deutschland so verteufelten Nationalismus hat das indessen nichts zu tun. Denn die eigene Homogenität mit Bedacht zu wahren, bedeutet nicht, andere Kulturen abzuwerten.

Das völkerrechtliche Prinzip, wonach der Fremde dem Recht des Aufenthaltsstaates unterworfen ist und es zu beachten hat, ist bis heute unbestritten, und so muß auch er sich der Wertauffassung, wie sie eine Staatsverfassung bestimmt, angleichen.

Wie stark der Verlust einer solchen Homogenität staatszerstörend wirken kann, zeigt das Auseinanderfallen kulturell so heterogener Staaten wie der Sowjetunion oder Jugoslawiens. Einwanderungsländer wie etwa die USA oder Vielvölkerstaaten wie die Schweiz haben doch immer eine gemeinsame Kultur ihrer Staatsbürger gefunden oder entwickelt (wie das seinerzeit in Preußen gelang). Wenn eine der wichtigsten Funktionen des Staates darin besteht, gesellschaftlichen Frieden herzustellen und zu bewahren, ist eine starke Wertehomogenität hierfür die beste, wenn nicht gar die einzige Garantie.

Nicht nur aus der Sicht der Staatengemeinschaft und also aus internationalem Recht ist eine gemeinsame überlieferte kulturelle Grundsubstanz in staatlichen Organisationen von wesentlicher Bedeutung – sondern das Recht jedes einzelnen Staates bedarf dieser Homogenität. Das wird dann klar, wenn man das Verfassungsrecht näher betrachtet.

Das Recht der Bundesrepublik Deutschland stellt an den Anfang seiner rechtsstaatlichen Garantien die Menschenwürde. Aber diese hat in den verschiedenen Kulturen der Welt beileibe keinen homogenen Charakter. So haben nahezu alle Staaten, die sich dem Islam verpflichtet fühlen, ihren Verfassungen den „Scharia-Vorbehalt“ vorgeordnet, der dann auch den Inhalt der dort konzipierten Menschenwürde bestimmt. Die Würde des Menschen, wie der Koran sie auffaßt, ist eine durchaus andere als diejenige der christlich-abendländischen Kultur. Es sei hier nur auf das Familien- und Strafrecht der Scharia und generell auf die Rechtsstellung der Frau im Koran verwiesen.

Ein deutsches Gericht, insbesondere das Bundesverfassungsgericht, das in einem Rechtsstreit zu entscheiden hätte, ob die staatliche Hoheitsgewalt oder auch ein Staatsbürger die Menschenwürde verletzt, stünde bei Anerkennung verschiedener Begriffe von Menschenwürde vor einem unlösbaren Konflikt. Könnte und dürfte es seine Entscheidung danach treffen, ob es im Einzelfall die Würdevorstellung eines Angehörigen christlich-abendländischer Kultur oder diejenige eines Mohammedaners zu berücksichtigen hätte? Könnte das Gericht, wenn die Würde einer Frau verletzt erscheint, verschieden urteilen, das heißt jeweils nach der Würdevorstellung des Kulturkreises, dem diese Frau angehört? Das würde zu unerträglichen politischen und gesellschaftlichen Differenzierungen führen. Das Gleichheitsgebot bezüglich der Geschlechter, wie das Grundgesetz es in Artikel 3, Absatz 2 vorschreibt, wäre aufgehoben.

Das über den Inhalt der gemeinsamen Verfassung des Staates entscheidende Verfassungsgericht kann nur eine einheitliche Auffassung vertreten. Die Verfassung höbe sich andernfalls selbst auf und verlöre ihre Berechenbarkeit für jedermann, gerade auch im Sinne des Rechtsstaatsgebotes, das hier die Rechtssicherheit garantieren soll.

Die Beachtung gemeinsamer Wertvorstellungen gilt mit einer gewissen Selbstverständlichkeit für Staatsbürger. Aber auch fremde Staatsangehörige sind diesem Gebot unterworfen, wenn sie sich im fremden Staatsgebiet aufhalten. Das völkerrechtliche Prinzip, wonach der Fremde dem Recht des Aufenthaltsstaates unterworfen ist und es zu beachten hat, ist bis heute unbestritten, und so muß auch er sich der Wertauffassung, wie sie in einer Staatsverfassung zum Ausdruck kommt, angleichen. Er kann nicht unter Berufung auf seine Herkunft aus einer anderen Kulturordnung eine Sonderbehandlung im Sinne einer vom Aufenthaltsstaat abweichenden Wertauffassung verlangen.

Jede andere Einstellung, etwa diejenige, daß alle Kulturen in ihren Auswirkungen gleich zu behandeln seien, so daß ein dem Islam angehöriger Mann von seiner Frau eine Art von Gehorsam verlangen kann, wie der Koran es gebietet, kann unter Geltung unserer Verfassung nicht akzeptiert werden. Würde diese Art der Globalisierung anerkannt, wäre ein Werterelativismus die Folge, der nihilistisch ist, und ein befriedetes Zusammenleben unmöglich.

Diese Auffassung hat nichts mit einem extremen Nationalismus zu tun. Sie berücksichtigt die Verschiedenheit der Kulturen, aus denen der Nationalstaat entstanden ist. Ein die verschiedenen Wertvorstellungen aller Kulturen einebnendes Weltbürgertum würde zum permanenten Bürgerkrieg führen. Gerade der Respekt der Kulturen voreinander macht ihre Abgrenzung voneinander notwendig.

 

Prof. Dr. iur. Dres. h. c. Karl Doehring war von 1968 bis zu seiner Emeritierung Inhaber eines Lehrstuhls für Staats- und Völkerrecht an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg sowie Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über den Vertrag von Lissabon (JF 37/09).

Foto: „Wir sind das Volk“: November 1989, Ost-Berlin, Montagsdemonstration von Deutschen: Kulturell-ethnische Homogenität des Staatsvolkes stabilisiert Recht und Gesellschaft

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