© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/09 27. November 2009

Nie mehr in Ostland reiten
Die „Heim ins Reich“-Politik der Nationalsozialisten 1939/1940 beendete die jahrhundertealte Geschichte der Deutschen im Baltikum
Detlef Kühn

Vor siebzig Jahren endete die Geschichte der Deutschen im Baltikum. Sie ist Teil der Ostkolonisation in Europa, weist aber Besonderheiten auf, die sie von anderen deutschen Siedlungsgebieten im Osten unterscheiden. Diese Besonderheiten sind es, die den früheren Deutschbalten noch immer die Aufmerksamkeit der Historiker sichern. Davon zeugte eine Veranstaltung des Deutschen Kulturforums östliches Europa in Potsdam und des Lüneburger Nordost-Instituts – Institut für Kultur und Geschichte der Deutschen in Nordosteuropa in Berlin. Was ist es, das an einer nie mehr als 180.000 Personen umfassenden Volksgruppe so fasziniert?

Eine bäuerliche deutsche Ostsiedlung blieb aus

Ende 1939 rief Adolf Hitler infolge seines Bündnisses mit Josef Stalin vom 23. August, das die baltischen Staaten zum sowjetischen Einflußgebiet erklärte, seine deutschen Volksgenossen „heim“ in sein Großdeutsches Reich. Die meisten folgten ihm ohne Zögern. Sie erkannten, was es bedeutete, wenn gleichzeitig sowjetische Truppen im Land stationiert wurden. Die autoritären Regierungen von Karlis Ulmanis (Lettland) und Konstantin Päts (Estland) riefen ihren bisherigen Mitbürgern zwar noch ein unfreundliches „Auf Nimmerwiedersehen“ nach. Aber im Sommer 1940 wurden sie selbst von Stalin abgesetzt und ihre Länder in die Sowjetunion gezwungen.

Die sofort einsetzenden sowjetischen Greuel dezimierten die lettischen und estnischen nationalen Eliten durch Mord und Deportation. Die 1939 noch zurückgebliebenen Deutschen sowie einige tausend Letten und Esten mit Beziehungen nach Deutschland suchten nun 1941 ihr Heil in einer „Nachumsiedlung“. Insgesamt verließen damals etwa 65.000 Deutschbalten ihre Heimat, die meist ihr mobiles Eigentum mitnehmen durften und aufgrund völkerrechtlicher Vereinbarungen aus Lettland und Estland ausgebürgert und in das Deutsche Reich aufgenommen wurden. Zurück blieben wenige Deutsche, meist mit familiären Bindungen zu Letten oder Esten. Ein großer Teil der Baltendeutschen wurde im Warthegau angesiedelt, um dort das Deutschtum zu stärken. Nicht wenige kehrten schon 1941, nach dem Beginn des Rußlandfeldzugs, als Soldaten oder Zivilbeamte wieder in ihre inzwischen von der Wehrmacht besetzte Heimat zurück – diesmal meist freudig begrüßt. Das Jahr 1945 verschlug dann die Überlebenden des Krieges mit den anderen Ostdeutschen ins verwüstete Restdeutschland.

Die Geschichte der Deutschbalten begann um 1200 mit der „Aufsegelung“ Livlands durch Kaufleute und Missionare, die den auf dem heutigen Gebiet Lettlands und Estlands ansässigen Ureinwohnern die Segnungen des Christentums bringen wollten. Ihre Aktivitäten wurden abgesichert durch den Schwertbrüderorden, der später im Deutschen Orden aufging. Es waren Adlige aus Westfalen und Kaufleute aus ganz Norddeutschland, die Städte gründeten (Riga 1201) und Ordensburgen errichteten, die noch heute beeindrucken.

Deutsche Bauern wurden nicht angesiedelt, da sie die Seefahrt über die Ostsee scheuten und durch die „Wildnis“ in Ostpreußen am Landweg gehindert wurden. So konnten sich Kaufleute und Handwerker in den Städten und Rittergutsbesitzer auf dem Lande nicht auf einen deutschen Bauernstand stützen. Die Landbevölkerung stellten die „Undeutsche“ oder „Bauern“ genannten Indigenen, die im Norden Estnisch und im Süden Lettisch sprachen. Sie waren schollenpflichtig, woraus eine Leibeigenschaft entstand, die erst 1817/19 aufgehoben wurde.

So bildeten die Deutschen eine Oberschicht, die die Politik und das wirtschaftliche und kulturelle Leben weitgehend beherrschte. Der russische Zar Peter der Große garantierte den Deutschen nach der Eroberung des Landes 1721 ihre Privilegien: Selbstverwaltung, Religion (Protestantismus) und deutsche Sprache. Dafür dienten seine deutschen Untertanen ihm und seinen Nachfolgern loyal. Die Zaren konnten sich im Militär, in der Wissenschaft und im Beamtenapparat auf ihre Deutschbalten verlassen. Deren Provinzen waren Territorien des Fortschritts. Fünfzig Jahre früher als im übrigen Rußland wurde die Leibeigenschaft abgeschafft. Die Schulbildung des Bauernstands war besser entwickelt. Die deutschen Geistlichen übersetzten Bibel und Katechismus in die Sprachen der Bauern. In dieser ständisch, nicht national geprägten Gesellschaftsordnung wurden die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß im Zuge des „nationalen Erwachens“ der Letten und Esten deren Sprachen sich zu leistungsfähigen Hochsprachen entwickelten.

Die deutsche Minderheit wurde nach 1919 entmachtet

Die ständischen Strukturen waren zwar durchlässig, bewirkten aber, daß sozialer Aufstieg mit einem Übergang ins Deutschtum verbunden war. Das änderte sich im Zeitalter des Nationalismus. Letten und Esten wollten ihren eigenen Nationalstaat und erhielten ihn nach 1918. Die Macht der ritterschaftlichen Familien wurde durch Enteignung gebrochen. Bereits ab 1860 hatte als Folge der Russifizierung in Rußland eine anfangs noch geringe Rückwanderung von Deutschbalten ins Deutsche Reich eingesetzt. Nach dem Ersten Weltkrieg und einer fünfmonatigen bolschewistischen Schreckensherrschaft 1919 folgte ihnen fast die Hälfte der deutschbaltischen Bevölkerung. Zurück blieb eine entmachtete Minderheit, die drei bis vier Prozent der Bevölkerung ausmachte, jedoch wirtschaftlich und kulturell immer noch eine Rolle spielte.

Von den baltischen Teilnehmern der Veranstaltung, der Historikerin Helena Simkuva aus Riga und dem stellvertretenden Leiter des Kriegsmuseums in Tallinn, Toomas Hiio, hörte man nachdenkliche Worte zu dem Exodus ihrer deutschen Heimatgenossen. Der estnische Präsident Lennart Meri hatte sie nach 1991 ausdrücklich zur Rückkehr eingeladen. Seit Lettland und Estland zur EU gehören, ist das kein Problem mehr. Jedoch sind nur wenige Deutsche zurückgekehrt. Die „Nachumsiedler“ erhalten sogar ihr Grundeigentum zurück. Die Umsiedler von 1939 hatten darauf verzichtet.

Foto: Deutschbaltische Umsiedler auf dem Hof des Baltenlagers zur Besiedlung des „Reichsgau Wartheland“, Posen 1940: Die „Rückkehr“ der Deutschbalten „ins Reich“ setzte bereits unter dem Zaren ein

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