© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/09 27. November 2009

Einheitsverfechter wurden immer einsamer
Die Mehrheit der politische Klasse wich in den 80er Jahren zunehmend vom Ziel einer deutschen Wiedervereinigung ab
Karlheinz Weissmann

Als im Sommer 1989 die letzten Umfragen zur politischen Haltung der Westdeutschen stattfanden, wurde auch die Einstellung zur „Deutschen Frage“ erhoben. Die Mehrheit – zwischen sechzig und siebzig Prozent – sprach sich für die deutsche Einheit aus, falls Bundesrepublik und DDR friedlich in einem neuen Staat vereinigt werden könnten. Die Zahlen zeigten ein erstaunliches Maß an Konstanz seit den sechziger Jahren. Vorher war die Zustimmung noch größer gewesen, seither gesunken, aber nie unter einen Anteil von fünfzig Prozent der Befragten.

Der Rückgang hatte weniger mit allgemeinen politischen Veränderungen zu tun, eher mit dem Einstellungswandel der tonangebenden Schichten. Denn hier vollzog sich eine allmähliche Abwendung von der Idee der deutschen Einheit – nicht gleichmäßig, nicht überall, aber doch in einem solchen Grad, daß in der Regel ein Zusammenhang von höherem Bildungsabschluß und „Nationsvergessenheit“ (der Philosoph Bernard Willms) erwartet werden konnte.

Zum letzten Mal hatte sich die bundesdeutsche Intelligenz am Beginn der achtziger Jahre mit der Deutschen Frage befaßt, angesichts von Nato-Nachrüstung und Friedensbewegung und der Wiederkehr so alter Einsichten wie der, daß die Bundesrepublik ein „besetztes Land“ (Heinrich Albertz, 1966/67 Regierender Bürgermeister von Berlin, SPD) und die Teilung ein von amerikanischem wie sowjetischem Imperialismus ins Werk gesetzter Tatbestand sei, der das deutsche Territorium zum atomaren Schlachtfeld des Dritten Weltkriegs machen konnte. Damals glaubten einige, fürchteten andere, daß Pazifismus und Patriotismus ein Bündnis eingehen und zum Kern einer bunten neuen Nationalbewegung werden könnten.

Ziel einer Vereinigung als „revanchistisch“ denunziert

Dazu kam es aber schon deshalb nicht, weil die Debatte über die „deutsche Identität“ abgebrochen wurde durch die „Wende“ von 1982, die der Linken ein neues Thema vorgab und den Bürgerlichen – vor allem den Anhängern von CDU/CSU – die Aussicht eröffnete, daß man in der Deutschlandpolitik zum Status quo ante zurückkehren werde. Faktisch wirkten sich aber der „Genscherismus“ ebenso wie die von Kohl als Bundeskanzler betonte „Kontinuität“ und „Verläßlichkeit“ dahingehend aus, daß die neue christdemokratisch-liberale Regierung die „realistische Entspannungspolitik“ der Ära Schmidt fortsetzte. „Realistisch“ war sie insofern, als man Sorge trug, daß die DDR nichts ohne Gegenleistung erhielt. Der Versuch, die Beziehungen auf dieser Grundlage fortzusetzen, stand auch im Hintergrund der spektakulären Kreditvergaben in Milliardenhöhe, die ausgerechnet der immer scharf gegen die Ostpolitik polemisierende und von seinen Gegnern als „Entspannungsfeind“ apostrophierte Franz Josef Strauß „einfädelte“.

Im Juni 1983 zeichnete Bonn eine Bürgschaft für einen Kredit über eine Milliarde D-Mark an die DDR, was immerhin den Abbau der Selbstschußanlagen an der innerdeutschen Grenze zur Folge hatte, im Juli 1984 übernahm sie eine weitere Garantie über einen Kredit in fast gleicher Höhe, worauf die DDR-Führung mit Erleichterungen im Reiseverkehr und Senkung des Zwangsumtauschs für Rentner reagierte. Wahrscheinlich gab es auch einen Zusammenhang zwischen der Verlängerung und Erhöhung des „Swing“ im Juli 1985 und der Räumung der Minenfelder des Grenzgebietes im November des Jahres.

Der Eindruck wachsender „Normalität“ in den Beziehungen beider deutscher Staaten und damit der deutschen Teilung ergab sich aber nicht nur aus der Menge der Verträge, die in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre abgeschlossen wurde (1986 Kulturabkommen, 1987 Umweltabkommen, 1988 Beginn innerdeutscher Städtepartnerschaften), sondern auch und in besonderem Maß aus der als eine Art Staatsbesuch inszenierten Visite Erich Honeckers in der Bundesrepublik. Nachdem bereits mehrere geplante Reisen gescheitert waren, kam das Treffen schließlich im September 1987 zustande. Das Ereignis fand in gelöster Atmosphäre statt, fast konnte man den Eindruck gewinnen, als handelte es sich um die Begegnung beliebiger Staatsmänner; allerdings erklärte Kohl, unbeeindruckt von Honeckers versteinerter Miene, in seiner Tischrede beim offiziellen Bankett: „Das Bewußtsein für die Einheit der Nation ist wach wie eh und je, und ungebrochen ist der Wille, sie zu bewahren. (...) Die Menschen leiden unter der Trennung, sie leiden an einer Mauer, die ihnen buchstäblich im Wege steht und die abstößt. (...) Sie wollen zueinanderfinden können, weil sie zusammengehören.“

Er verwies außerdem auf den Auftrag des Grundgesetzes, die deutsche Einheit wiederherzustellen. Dem kam deshalb erhöhte Bedeutung zu, weil die Bundesregierung im Vorfeld des Besuchs durchgesetzt hatte, daß die Tischreden vom Fernsehen beider Staaten direkt übertragen werden mußten. Andererseits konnte man solche Stellungnahmen auch als bloße Rhetorik werten; das Neue Deutschland zog jedenfalls aus dem Besuch Honeckers den Schluß: „Die Teilung hat sich vollendet.“

Diese Einschätzung hatte auch in Westdeutschland Anhänger – und nicht nur solche, die bereit waren, zähneknirschend ein als bitter empfundenes Schicksal hinzunehmen, sondern auch solche, die in der Einheit der Nation eine Last sahen, die man endlich loswerden sollte. Widerspruch gab es, aber nur verhalten, was sich aus dem Kräfteverhältnis zwischen den deutschlandpolitischen Meinungslagern am Ende der achtziger Jahre erklärt: Eine entscheidende Rolle, trotz zahlenmäßiger Schwäche, spielte die Gruppe derjenigen, die alles Festhalten am Ziel der Wiedervereinigung für „revanchistisch“ oder „friedensgefährdend“ hielt. Entsprechende Anschauungen waren im ganzen Lager der Linken – vor allem unter Anhängern und Funktionären der Grünen sowie professionellen „Meinungsmachern“ (Helmut Schelsky) – verbreitet, ragten aber bis in den etablierten Bereich der Sozialdemokratie und der politischen Mitte hinein.

Dort war allerdings weniger die Bejahung als vielmehr die Hinnahme der Zweistaatlichkeit das vorherrschende Motiv. Gerade Protagonisten der Neuen Ostpolitik, die zu Beginn der siebziger Jahre jeden Verdacht empört zurückgewiesen hatten, daß die mit der Sowjet-union und ihren Satelliten abgeschlossenen Verträge zu einer sukzessiven Aufgabe des Ziels der Wiedervereinigung führen könnten, erklärten nun offen die Wiedervereinigung zur „Lebenslüge der zweiten deutschen Republik“ (Willy Brandt), „objektiv und subjektiv Lüge, Heuchelei, die uns und andere vergiftet“, „politische Umweltverschmutzung“ (Egon Bahr); an diesem Ziel festzuhalten, sei „opportunistisch und widerwärtig“ (Peter Glotz). Erhard Eppler äußerte noch 1988, Europa brauche „um seines Friedens willen eine stabile, lebensfähige, selbstbewußte DDR“.

Pragmatische Hinnahme der deutschen Zweistaatlichkeit

Zwar gingen nur wenige Sozialdemokraten so weit wie Klaus Bölling und Jürgen Schmude, die offen für die Beseitigung des Wiedervereinigungsgebots in der Präambel des Grundgesetzes eintraten; aber es ist doch dem Politikwissenschaftler Jens Hacker zuzustimmen, der bei seiner Untersuchung deutschlandpolitischer Positionen in der Bundesrepublik zu dem Ergebnis kam, „daß im Verlauf der achtziger Jahre nahezu die gesamte Führungselite der SPD, wenn man von Helmut Schmidt, Dieter Haack und einigen anderen absieht, von ‘Deutschland’ Abschied genommen hat“.

Dabei unterschied sich die von der sozialdemokratischen Führung bezogene Position nur um Nuancen von jener der „Modernisierer“ innerhalb der CDU. Diese Gruppierung, die sich um den Generalsekretär der Partei, Heiner Geißler, gesammelt hatte, versuchte der Union seit dem Beginn der achtziger Jahre ein neues Image zu geben, indem sie „weiche“ Themen – Frauen, Umwelt, Soziales – besetzte und die Partei von ihrer älteren Orientierung an konservativen Vorstellungen löste. Zu dieser Strategie gehörte auch die allmähliche Beseitigung der deutschlandpolitischen Positionen, so daß in der CDU eine Anschauung an Boden gewann, die die Wiedervereinigung als Anachronismus betrachtete. 

Am 18. Februar 1988 stellte Geißler den Entwurf einer vom Parteivorstand eingesetzten Kommission für ein neues Programm der Union vor, in dem es unter anderem hieß: „Die Überwindung der Teilung Europas und damit Deutschlands setzt eine Überwindung des West-Ost-Konflikts voraus. Die Lösung der Deutschen Frage ist daher gegenwärtig nicht zu erreichen.“ Ansonsten sei die Einheit „von den Deutschen nur mit Einverständnis ihrer Nachbarn in West und Ost zu erreichen“.

Es kam nach Bekanntwerden des Entwurfs zu heftigen Protesten von der Parteibasis, die dazu führten, daß der Passus vor der Abstimmung auf dem Bundesparteitag im Juni 1988 geändert werden mußte. Daß die hinter Geißler stehenden Kräfte auf Dauer in der Minderheit geblieben wären, ist aber unwahrscheinlich. Nur konnten sie sich vor der Wiedervereinigung nicht stärker durchsetzen. Die Union blieb insofern die Vertreterin der „klassischen“ deutschlandpolitischen Position, der zufolge die „Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit“ erreicht werden sollte, wobei bis zu diesem Zeitpunkt Rechtspositionen – vor allem die Rechtsnachfolge des Deutschen Reiches und die Grenzen vom 31. Dezember 1937 – nicht zur Disposition gestellt werden dürften.

Die Zahl derjenigen, die ernsthaft an eine Rückgliederung der Oder-Neiße-Gebiete dachten, war aber sehr klein. Außerhalb des eng mit der Union liierten Bundes der Vertriebenen (BdV) gab es praktisch niemanden, der sich entsprechend festlegen wollte, und auch in den Reihen des Vertriebenenverbandes konnte man Erosionserscheinungen feststellen. Herbert Czaja, langjähriger BdV-Präsident, hat dafür drei Tendenzen verantwortlich gemacht: erstens den Einfluß der Antipatrioten auf das Meinungsklima überhaupt, zweitens das Desinteresse der West- an den Ostdeutschen und ihrem Schicksal und drittens die Korruption von Funktionären, „oft solche, die sich am schärfsten für den ‘deutschen Osten’ artikulierten, die Maximales forderten“, die sich dann aber „wegen der Karriere oder geruhsamer Funktionen oder aus Oberflächlichkeit später mit milder Erinnerung an die Heimat“ zufriedengaben.

Das Primat des Nationalen war Sache einer Minderheit

Eine entscheidende Schwäche der vor allem an Rechtsstandpunkten ausgerichteten Auffassung in der Deutschlandfrage war ihre defensive Ausrichtung. Es hatte deshalb nach 1945 immer patriotische Einzelgänger gegeben, die weniger an juristischen oder territorialen Aspekten orientiert waren, sondern vor allem gegen den Attentismus in der Nationalpolitik opponierten. Dabei spielten neutralistische Vorstellungen eine Rolle, die entweder ideologisch – mit Hinweis auf eine deutsche „Brücken-Funktion“, einen besonderen „dritten Weg“ – oder rein pragmatisch mit Blick auf die geopolitische Lage argumentierten. In den achtziger Jahren erlebte dieses nonkonformistische Lager eine Renaissance, weil die zunehmende Abwendung von der Nation alarmierend wirkte und außerdem die Rüstungsdiskussion den Blick dafür schärfte, daß sich die Deutschen tatsächlich in einer besonderen Position befanden. Schließlich wich der Antikommunismus der früheren Jahre einer Auffassung, die auch manchen Konservativen zu der Meinung bringen konnte, die Sowjetunion sei nur ein gewandeltes Rußland, mit dem ein neues Tauroggen oder Rapallo möglich wäre.

Die Vertreter dieses Meinungslagers, das ein Primat des Nationalen setzte, blieben zuletzt immer ohne Aussicht auf Erfolg und größere Anhängerschaft. Der Linken waren sie verdächtig wegen der strikt nationalen Orientierung, den Bürgerlichen wegen der Skepsis gegenüber der „Westbindung“; indes fanden sich in ihren Reihen die einzigen, die lange vor dem 9. November 1989 und dem 3. Oktober 1990 die Prophezeiung wagten: „Die deutsche Einheit kommt bestimmt“ (Wolfgang Venohr).

Foto: Helmut Kohl und Erich Honecker beim Besuch der Bundesrepublik am 7. September 1987 nehmen mit versteinerten Mienen die Hymnen ab: Keine Begegnung beliebiger Staatsmänner

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