© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/09 27. November 2009

Ungerecht, aber fair
JF-Debatte, Teil VI und Schluß: Warum der Kapitalismus wie kein anderes System die Freiheit fördert
Elliot Neaman

Seit Karl Marx ihn als mächtige weltgeschichtliche Kraft in Umlauf brachte, haben Intellektuelle – Verteidiger wie Kritiker – den dialektischen Begriff des „Kapitalismus“ zu einem Popanz aufgeblasen, der wenig mit unserer ständigem Wandel unterworfenen Realität zu tun hat. Der „Kapitalismus“ ist weder Teufelswerk noch Heilsweg, sondern lediglich ein Wort, um neuzeitliche Wirtschaftssysteme auf der Basis freier Märkte und gesetzlichen Schutzes zu beschreiben. Was den Kapitalismus im Unterschied zu allen anderen Wirtschaftsformen auszeichnet, ist seine Fähigkeit, beispiellosen materiellen Reichtum zu schaffen.

Von einer moralischen Warte ließe er sich mit dem Philosophen Isaiah Berlin als ein System definieren, das auf „negativer Freiheit“ beruht, nämlich als Zusammenspiel von Praktiken, die nur dann gedeihen können, wenn sie vor der „Frechheit und Anmaßung“ (Adam Smith) derjenigen beschützt werden, die in die Mechanismen der Marktgesellschaft einzugreifen trachten.

Als Beispiele einer „positiven Freiheit“ – Bestrebungen, mit Hilfe von menschgemachten Gesellschaftsentwürfen neuartige soziale Ordnungen, gar „Schöne Neue Welten“ zu schaffen – wären in der jüngeren Geschichte Faschismus, Nationalsozialismus, Sozialismus und Kommunismus zu nennen. Bestenfalls scheiterten solche Experimente, schlimmstenfalls zeitigten sie  grauenhafte Resultate. Heute stehen wir vor der Frage nach der Zukunft des Kapitalismus, der sich zwar seiner alten Feinde entledigt hat, aber nun seinerseits in der Krise steckt.

Ein weitverbreiteter Irrglaube besagt, Sozialstaat und freie Marktwirtschaft seien miteinander unvereinbar. Einer der bedeutendsten Verfechter des Liberalismus, Friedrich von Hayek, sah keinen Widerspruch zwischen dem Kapitalismus und der Existenz eines haltbaren sozialen Netzes zur Unterstützung Bedürftiger. Wie für Adam Smith und die englischen Whigs lag für Hayek die Hauptrolle der Regierung darin, die Währung zu sichern und Ordnungshüter sowie Gerichte zu stellen, um die Bürger voreinander und vor dem Staat zu schützen. Darüber hinaus nahm er den Staat jedoch in die Verantwortung für öffentliche Gesundheit und Landesverteidigung – was sich im weitesten Sinne als Befürwortung eines Sozialsystems deuten läßt, da nur eine gesunde Bevölkerung imstande ist, Bedrohungen von außen abzuwehren.

John Maynard Keynes, dessen Lehre heute allgemein als Gegenentwurf zur marktwirtschaftlichen Ideologie gilt, fand lobende Worte für Hayeks berühmte Kritik staatlicher Einmischung in die Wirtschaft, „Der Weg zur Knechtschaft“ (1944). Auch Ludwig Erhard, dem Nachkriegsdeutschland die Schaffung der Sozialen Marktwirtschaft verdankt, war ein Schüler Hayeks und anderer wirtschaftsliberaler Theoretiker wie Walter Eucken und Wilhelm Röpke.

Daß heutzutage die Meinungsverschiedenheiten zwischen Verfechtern der freien Marktwirtschaft und Befürwortern staatlicher Kontrolle soviel stärker ausgeprägt sind, liegt am beispiellosen Wachstum der Staatshaushalte in den westlichen Industriestaaten. Zwischen 1870 und 1913 blieben die staatlichen Ausgaben in den sechzehn wichtigsten Industriestaaten unterhalb der Wachstumsrate des Bruttosozialprodukts. Seit dem Ersten Weltkrieg hingegen sind diese Kosten stetig gestiegen und liegen heute in den meisten europäischen Ländern bei 50 Prozent, in den USA immerhin bei 35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Ein beträchtlicher Teil dieser Gelder fließt in sich ausweitende Regierungsprogramme zur Eindämmung der Armut und Unterstützung der schwächeren Mitglieder der Gesellschaft. Lobenswerte Ziele gewiß, doch stellt sich die Frage, ob staatlich initiierte und finanzierte Maßnahmen der beste Weg sind, sie zu erreichen. Regierungen geben Geld aus, schaffen aber keinen Wohlstand. In erfolgreichen Volkswirtschaften ist Privatunternehmertum der Motor, der Profite erzeugt, die dann besteuert werden und auf diese Weise den Sozialstaat finanzieren. Regierungen können bestimmte Industrien subventionieren, sie können Gewinner und Verlierer im ökonomischen Wettbewerb um bessere Waren und Dienstleistungen unterschiedlich behandeln, doch sind die Ergebnisse solcher Eingriffe zumeist wenig überzeugend.

Deswegen sind Staaten mit einem gut funktionierenden Sozialsystem zugleich Staaten mit einer liberalen Wirtschaftspolitik. Schweden ist ein hervorragendes Beispiel dafür. Dort gelten hohe Steuersätze für den einzelnen Bürger, aber niedrige Sätze für Unternehmen. Die Schweden haben begriffen, daß Wohlstand und sozialer Frieden nur so lange Bestand haben können, wie man die Gans nicht tötet, die die goldenen Eier legt.

Verfechter einer verstaatlichten Wirtschaft verweisen unweigerlich auf die Ungleichheiten zwischen Reichen und Armen als Hauptargument gegen den Kapitalismus. Ein System, das die unbegrenzte Verfolgung des Eigennutzes begünstigt, führe zu einem Ungleichgewicht, das die Armen in jeder Hinsicht benachteilige. Also müsse der Staat eingreifen und diese Ungleichheit korrigieren, indem er eine „faire“ und „gerechte“ Gesellschaft schafft.

Indes deuten alle historischen Erfahrungen darauf hin, daß „Fairneß“ und „Gerechtigkeit“ zwei vollkommen unterschiedliche Dinge sind – und daß letztere nur durch Zwang zu erreichen ist. Eine sozialistische Vorstellung von Gerechtigkeit verlangt die Gleichheit der Ergebnisse, während Fairneß-Verfechter sich mit Chancengleichheit zufriedengeben. Denn um gleiche Ergebnisse zu garantieren, ist eine Elite erforderlich, die im Besitz des Herrschaftswissens darüber ist, wie sich die Interessen der Gesellschaft am besten verwirklichen lassen. Deswegen unterschied sich der von Bismarck geschaffene paternalistische Sozialstaat der 1870er in seinen Ansprüchen nur insofern von den Forderungen der Sozialisten, als er von Aristokraten regiert wurde.

Dabei gibt es eine marktwirtschaftliche Alternative zum paternalistischen Vormundschaftsstaat, die das Problem der Ungleichheit auf äußerst elegante Weise löst. Vor über vierzig Jahren brachten Milton und Rose Friedman den Vorschlag einer „negativen Einkommensteuer“ in die Debatte ein. Dazu wäre die Summe festzulegen, die ein jeder benötigte, um sämtliche Lebensnotwendigkeiten zu decken. Diese Summe sollte dann als Grenzlinie zwischen negativer und positiver Einkommensteuer dienen. Einzelne Bürger oder Familien, deren Einkommen darunter läge, würden vom Staat Geld erhalten, anstatt Abgaben zahlen zu müssen. Anders als im Sozialstaat bliebe bei diesem System der Anreiz bestehen, durch eigene Arbeit Geld zu verdienen. Zudem ließen sich dadurch bürokratische Wasserköpfe und ineffiziente staatliche Maßnahmen abbauen. Daß diese effektive Lösung noch niemals erfolgreich ausprobiert werden konnte, liegt vor allem am Widerstand eingeschanzter Bürokratien und einschlägiger Interessenverbände sowie an der beschränkten Phantasie der Politiker.

In Europa wird das amerikanische Modell häufig als Negativbeispiel eines Wirtschaftssystems angeführt, das um jeden Preis vermieden werden müsse. Europäische Verfechter des freien Markts werden als „Neoliberale“ verteufelt, als kaltherzige Zerstörer der Solidarität und sozialen Gerechtigkeit. Tatsächlich sind Europäer insgesamt eher bereit, Gleichheit der Ergebnisse auf Kosten des gesellschaftlichen Wohlstands durchzusetzen. Dagegen nehmen Amerikaner enorme Einkommensunterschiede hin, solange sie das Wirtschaftssystem für „fair“ halten. Was sie darunter verstehen, ist ein System, das wirtschaftlicher Aktivität möglichst geringe Hindernisse in den Weg stellt.

Natürlich gibt es eine echte Chancengleichheit weder in der amerikanischen noch in irgendeiner anderen Gesellschaft. Manche Menschen stammen aus wohlhabenden Familien oder haben angeborene Talente oder körperliche Vorzüge, die ihnen Vorteile verschaffen. Fairneß ließe sich definieren als eine Reduzierung der Hürden trotz naturgegebener und sozialer Unterschiede. Ein faires System gibt dem Einzelnen die besten Werkzeuge in die Hand, um am Wettbewerb teilnehmen zu können – nicht indem es den Sieger ermittelt, denn nicht alle können siegen und nicht alle können Preise bekommen. Anscheinend haben wir wenig dagegen einzuwenden, daß Sport- oder Filmstars ihre angeborenen Talente nutzen, um zu Reichtum zu kommen. Kindern aus reichen Familien mißgönnen wir dagegen ihren angeborenen Reichtum. Dabei ist das eine so „unfair“ wie das andere.

Eine weitere Befürchtung der Europäer lautet, der amerikanische „Cowboy-Kapitalismus“ führe zum Kulturverfall, denn wenn jeder seinen Eigennutz verfolge, sei niemand bereit, zugunsten des Allgemeinwohls Opfer zu bringen. In Wirklichkeit spenden wohlhabende Amerikaner unverhältnismäßig viel für wohltätige und zivilgesellschaftliche Zwecke. Während die Europäer erwarten, daß der Staat für Opernhäuser, Museen, Universitäten und öffentlich-rechtliche Medien aufkommt, wird in den USA ein weit dynamischeres Spektrum von kulturellen und Bildungsinstitutionen durch den privaten Sektor finanziert.

In dem Beitrag, der diese Debatte eröffnete (JF 44/09), behauptet Harald Harzheim: „Totaler Markt impliziert die Diktatur eines Typus: des homo economicus. Es ist das ‘Recht auf Verschiedenheit’ (Alain de Benoist), das der ungebremsten Wirtschaft als erstes zum Opfer fällt.“ In Wirklichkeit verhält es sich genau umgekehrt. Die freie Marktwirtschaft beruht in der Tat auf der Energie, Kreativität und Entschlossenheit, die den homo economicus auszeichnen – doch je weniger der Staat sich in die Handlungs- und Gestaltungsfreiheit einmischt, desto mehr menschliche „Verschiedenheit“ wird zutage treten. Denn nur Staaten haben, wenn man sie zu groß oder zu mächtig werden läßt, das Potential zur Knechtschaft oder sogar zur Diktatur.

Mit seinem Beitrag „Ohne Selbstausbeuter kein freier Markt“ (JF 44/09) zettelte der Kulturjournalist Harald Harzheim an dieser Stelle eine Debatte über Wirtschaftsliberalismus, Sozialstaat und individuelle Freiheiten an. Auf seine Warnung vor einem ungezügelten Markttotalitarismus antwortete ihm der Wirtschaftsliberale Bernd-Thomas Ramb („Die Freiheit der Auswahl“, JF 45/09). Den beiden Kontrahenten folgten Beiträge des Philosophen und Publizisten Baal Müller („Ein neuer Ursprung aus Gegebenem“, JF 46/09), des Volkswirts Jens Jessen („Wachstum hebt den Wohlstand nicht“, JF 47/09) sowie des Historikers Dag Krienen („Raub ist rationaler als Tausch“, JF 48/09). Mit der Einlassung des liberalen US-Historikers Elliot Neaman beenden wir die Debatte.

 

Prof. Dr. Elliot Neaman lehrt Neuere europäische Geschichte an der University of San Francisco.

Foto: Volkswirtschaft: Regierungen schaffen keinen Wohlstand

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