© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/09 20. November 2009

Sind Selbstmörder Todsünder?
Nach dem Suizid von Robert Enke: Mitleid allein wird dem Phänomen bei weitem nicht gerecht
Günter Zehm

Es war, wie die Medien vermelden, die größte Trauerfeier für einen einzelnen Menschen, die je in der Bundesrepublik Deutschland stattgefunden hat. Etwa 40.000 Anteilnehmende füllten vorigen Sonntag das Hannoversche Fußballstadion, als der katholische Pfarrer Heinrich Plochg seine Leichenpredigt für den verstorbenen Nationaltorwart Robert Enke begann, welcher sich im Alter von 32 Jahren am Dienstag vergangener Woche in spektakulärer Form vor einen Zug geworfen hatte.

Die Predigt galt einem Selbstmörder, obwohl die katholische Kirche den Selbstmord jahrhundertelang als schwere Sünde verurteilte und sich noch heute weigert, „überlegten Selbstmördern ohne Reueanzeichen“, die zudem durch ihre Tat „öffentliches Ärgernis“ erregen, ein kirchliches Begräbnis zu gewähren. Die gigantische Trauerfeier für Robert Enke markierte unübersehbar einen grundsätzlichen Sichtwandel der Öffentlichkeit und ihrer Institutionen gegenüber dem Tatbestand der Selbsttötung. Noch weiß niemand, welche sozialen Folgen das eventuell haben wird.

Zur Zeit und unter der unmittelbaren Einwirkung des Falles Enke überwiegt die Tendenz, den Selbstmord als Resultat freier Entscheidung überhaupt zu leugnen, ihn als bloße Krankheit („Depression“) zu betrachten, die den von ihr Befallenen gar nicht mehr zur freien Entscheidung befähige. Der Selbstmörder, so heißt es allerorten, sei nicht Subjekt freier Selbstbestimmung, sondern „Patient“, er müsse nicht von irgend etwas überzeugt, sondern „geheilt“ werden.

Die diagnostische Medizin und die seriöse Suizidforschung teilen diese aktuelle Einstellung nicht. Sie verweisen auf die ungeheure Fülle möglicher Motive zur Selbsttötung, die sich keineswegs alle unter dem – ohnehin noch weitgehend ungeklärten – Begriff der „Depression“ abheften  lassen. Viele Forscher sprechen statt von Depression lieber von „bipolaren Störungen“, nämlich von Krankheiten oder schweren Behinderungen, die der von ihnen betroffene Mensch einfach nicht mehr länger aushalten mag und sich deshalb zum Suizid entschließt.  Er ist also nicht willenloses Objekt seiner Störungen, sondern gewissermaßen ihr Partner, welcher durchaus über Willensfreiheit und Entscheidungsspielraum verfügt.

Einigkeit besteht in der wissenschaftlichen Welt lediglich darüber, daß diesem „gefährdeten“ Personenkreis, soweit er sich zu erkennen gibt, mit medizinisch-psychologischem Rat und Einsatz medizinisch-chemischer Therapiemittel zu helfen sei, freilich nur partiell und zeitweise. Häufige Selbstmordanlässe wie etwa ökonomisches Totalscheitern, sozialer Gesichtsverlust oder partnerschaftliche Lebenskrisen entziehen sich weitgehend psychologischem Rat oder Therapieversuchen mittels Tabletten. Es sind keine spontanen Augenblicksentscheide, sondern, wie Viktor Frankl formuliert hat, „rationale Bilanzsuizide“, die aus reiflicher Überlegung entstehen.

Die Statistik sagt, daß neunzig Prozent aller Suizide, zumindest in westlichen Gesellschaften, auf manisch-depressive Erkrankungen, Suchtwahn und schizophrene Persönlichkeitsspaltungen zurückgeführt werden können. Aber dem wäre schon einmal entgegenzuhalten, daß zu solcher Diagnose nur die Suizidhandlung selbst und die Beschreibungen von Angehörigen herangezogen werden können. Letztere sind jedoch fast immer höchst unvollständig oder gar fehlerhaft, oder es wird einzelnen Begebenheiten im nachhinein eine unangemessene Bedeutung beigemessen.

Unterm Strich gilt wohl, daß der Selbstmord als solcher, wie er Philosophie, Theologie und Justizwesen beschäftigt, immer ein Bilanzsuizid ist, wo individuelle Entscheidung fällig wird. Das gilt selbst für extremste Lagen. Fritz Mauthner vergleicht in seinem „Wörterbuch der Philosophie“ den Selbstmörder mit einer an der Ufermauer stehenden Katze, die, weil sie von heißen Eisenstangen umzingelt ist, ins für sie tödliche Wasser springt. Wie die Katze, die sonst schwere Verbrennungen erlitte, töten wir uns selbst nur dann, wenn wir das Weiterleben oder den Tod durch fremde Hand als unerwünschter einschätzen als den Suizid. Wir treffen damit eine moralische Entscheidung sui generis.

Bei den meisten neueren Moralphilosophen kommt  der Selbstmord übrigens nicht schlecht weg. Er wäre als Massenphänomen natürlich horribel; sogenannte „Selbstmordgesellschaften“, wie es sie ja schon gibt, wecken Alpträume in Hinblick auf den greulichen Mißbrauch, der mit ihnen getrieben werden kann. Aber als freie Tat einzelner Tapferer, die sich und ihren Nächsten gewisse Demütigungen und Würdelosigkeiten ersparen wollen, behält der Suizid seine Dignität. Er ist gewiß keine Todsünde, wie das die meisten Theologen behaupten.

Allenfalls liegt die Möglichkeit nicht fern, daß der Selbstmörder aus Selbstsucht handelt, zuwenig Rücksicht auf den Schmerz eines Nächsten nimmt, der ihn mit Leidenschaft und pflegender Hingabe liebt und ihn auf eine vertrackte Weise für sein eigenes Leben braucht.  Es kommt vor, daß Selbstmörder feige sind, sich, obwohl sie wissen, daß sie mit ihrer Tat anderen großen Schmerz bereiten und vielleicht auch ein fragwürdiges Vorbild abgeben, dennoch umbringen aus Angst vor Schmerzen und Verfall oder auch, um sich gewissen Verantwortlichkeiten zu entziehen. Das mag moralisch zu verurteilen sein, aber einen Mord, das Urverbrechen schlechthin, begehen sie damit auf keinen Fall.

Selbstmord, aus welchem Motiv auch immer, bleibt in jedem Fall eine unendlich heikle, von moralischen Abgründen zerrissene Tathandlung. Er hinterläßt oft Schäden bei der Mitwelt, die der Täter auch bei größter Kaltblütigkeit und größtem moralischen Anstand nie vollständig absehen kann. Ein Suizid kann zum Beispiel, wie nicht zuletzt der Fall Enke beweist, erhebliche Sachschäden verursachen und zusätzlich schlimme seelische Schäden bei völlig unbeteiligten Dritten, die zur Durchführung der Tat mißbraucht wurden (zum Beispiel Fahrpersonal der Bahn).

Suizid steht nach deutschem Recht der Auszahlung von Lebensversicherungen entgegen, es sei denn, er wurde im Zustand der Unzurechnungsfähigkeit begangen. Die Versicherer sichern sich hierdurch gegenüber Personen, deren Selbsttötungsabsicht bei Abschluß des Versicherungsvertrags bereits feststand und die auf Kosten der Versichertengemeinschaft für ihre Hinterbliebenen sorgen wollen.

Man sieht: Mit massenhaften spontanen Mitleidausbrüchen ist es beim Thema Selbstmord nicht getan. Die Trauer-Demonstration im Fußballstadion war natürlich ein „Event“ wie selten eines zuvor. Aber der Ernst des Lebens beginnt diesseits der Stadiontore.

Foto: Trauerfeier für den Nationaltorwart Robert Enke, der sich vorige Woche das Leben genommen hatte: Partner seiner Störungen

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