© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/09 13. November 2009

Über 72.000 vergessene Maueropfer
Inhaftierte DDR-Flüchtlinge berichten über ihre Verfolgung durch das SED-Regime / Unternehmer stiftet 10.000 Buchexemplare für den Unterricht
Christian Dorn

Das Jubiläum von 20 Jahren Mauerfall zeigte ein weiteres Mal die Endlosschleife vom Freudentaumel jener Nacht, die Jahrzehnte der Trennung und des Eingesperrtseins beendete. Im Reigen dieser Bilder droht indes das Schicksal derer verdrängt zu werden, die wegen ihres Verlangens nach Freiheit von den DDR-Behörden wie Schwerverbrecher behandelt wurden. Über 72.000 Menschen scheiterten seit 1961 bei ihrem Versuch, in den Westen zu gelangen. Zu diesen Opfern des DDR-Grenzregimes, die für ihr „Vergehen“ oft jahrelang hinter Gittern saßen, zählt Hubertus Knabe, Direktor der Gedenkstätte Hohenschönhausen, auch jene Westdeutschen, die als Fluchthelfer in die Fänge der DDR-Organe gerieten, sowie die Gruppe derer, die allein aufgrund ihres Ausreiseantrags ins Gefängnis kamen.

Gemeinsam ist ihnen allen, daß sie in der Regel zunächst in die Untersuchungshaftanstalten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) kamen. Den dort herrschenden Zustand völligen Ausgeliefertseins, der Ungewißheit und der vollkommenen Rechtlosigkeit schildern fünfzehn Betroffene in dem von Knabe herausgegebenen Sammelband „Die vergessenen Opfer der Mauer“ (Inhaftierte DDR-Flüchtlinge berichten. List Verlag, Berlin 2009, broschiert, 363 Seiten, 8,95 Euro). Nicht selten leiden sie bis heute an den Spätfolgen ihres mißglückten Fluchtversuchs und der darauf folgenden Inhaftierung. Obschon die einzelnen Schicksale Epochen zugeordnet sind – Nach dem Mauerbau / Ulbrichts Jahre / Entspannungspolitik / Eiszeit / Späte DDR –, gleichen sich doch die Haftbedingungen derart, daß mit fortschreitender Lektüre durchaus Depressionsgefahr besteht. Genau hier aber liegt das zu würdigende Verdienst dieser Publikation: wird doch dadurch die unmenschliche Perfidie der DDR-Diktatur mustergültig vorgeführt.

Der also naheliegende pädagogische Ansatz – angesichts ausgreifender ostalgischer Verharmlosung – wurde jetzt von dem Schweizer Unternehmer Jürgen Wagentrotz erkannt, der am Frankfurter Flughafen auf das Buch gestoßen war. Er zeigte sich von dessen Lektüre tief bewegt, wurde er doch einst selbst durch die Berliner Mauer von seiner Familie getrennt. Während er 1961 noch nach West-Berlin flüchten konnte, war seiner Mutter, die nachfolgen sollte, der Weg in die Freiheit versperrt geblieben.

Um die Erinnerung an das verbrecherische Grenzregime der DDR wachzuhalten, stiftete Wagentrotz nun 10.000 Buch-Exemplare, die von der Gedenkstätte Hohenschönhausen gratis verteilt werden. Einen Teil der Bücher sollen Schulen erhalten, die regelmäßig Klassen in das ehemalige Untersuchungsgefängnis senden. Insbesondere sollen dabei Schulen in den neuen Bundesländern berücksichtigt werden. Der andere Teil kann von Geschichtslehrern aus ganz Deutschland in Klassensätzen geordert werden (solange der Vorrat reicht).

Gestartet wurde die Aktion im Ossietzky-Gymnasium in Berlin-Pankow, das eine eigene Geschichte aufweist: Im Jahr 1988 hatten hier Schüler kritische Wandzeitungsartikel veröffentlicht, aufgrund derer es unter anderem drei Schulverweise gab – heute aufbereitet als Unterrichtsmaterial („Ein Schulkonflikt in der DDR“). An diesem Ort berichtete nun Karl-Heinz Richter, Beiträger des Sammelbandes und Führungskraft in der Gedenkstätte Hohenschönhausen, von seiner mißglückten Flucht. Die Geschichte vom „Bahnhof Friedrichstraße“ ist an Dramatik nicht zu überbieten: Gemeinsam mit einem Freund hatte er im Februar 1964 versucht, auf den gen Westen fahrenden Zug aufzuspringen. Während der Freund es schafft, muß Richter – als er den Halt auf dem Trittbrett verloren hat – schließlich loslassen: „Ich überschlug mich einige Male und blieb neben dem Schotter neben den Gleisen liegen.“ Richter rennt zum Versteck zurück, erst hier merkt er, daß er seine Schuhe verloren hat.

Um unentdeckt zu verschwinden, schwingt er sich über ein Geländer – nicht bedenkend, daß es dort sieben Meter in die Tiefe geht. Wie eine Katze kracht er auf allen Vieren auf, verliert kurzzeitig das Bewußtsein – nicht fühlend, daß er sich gerade Arme und Beine gebrochen hat. So schleppt er sich an den Häuserwänden entlang vom Schiffbauerdamm mehrere hundert Meter. An einem Papierkorb versucht er sich festzuhalten, während seine Beine ständig einsacken. Schließlich treffen ihn die Freundinnen, die in den Fluchtplan eingeweiht waren und die ihn in die elterliche Wohnung bringen, wo ihn die Kräfte verlassen und er zusammenbricht: „Wie ein angeschossenes Wild zu seinem Bau flüchtet, um dort einfach zu verenden, so hatte ich es bis in die Wohnung geschafft. Endlich in Sicherheit.“ Nicht so in der DDR: Was folgte, war die Staatssicherheit und die gnadenlose Inhaftierung in deren Untersuchungsgefängnis.

Foto: Einzelhaftzelle in Berlin-Hohenschönhausen: Gnadenlos

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