© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/09 13. November 2009

Die zwei Kulturen des Selbst
Nach dem „Tod des Subjekts“: In der Literaturzeitschrift „Wirkendes Wort“ wird die Lage der wissenschaftlicher Biographik in der Postmoderne analysiert
Ulf Meier

Alljährlich erscheinen auf dem Buchmarkt über 10.000 Biographien. Tendenz seit langem: steigend. Ein höchst merkwürdiges Phänomen. Denn zum einen scheint die Zeit der „großen“ Biographen vorbei, die wie Stefan Zweig oder Emil Ludwig vor zwei Generationen Welterfolge einfuhren. Von Jesus bis Hindenburg, von Maria Stuart bis Sigmund Freud war kaum eine historische Gestalt vor ihrem Zugriff sicher.

Die heute aktiven Fließband-Biographen sind hingegen wesentlich bescheidener – was die Auflagenhöhe ihrer Produkte angeht und, wie etwa bei Rüdiger Safranski, der sich auf die „Goethezeit“ beschränkt, ebenso was die Überschaubarkeit ihrer Arbeitsfelder betrifft.

Trotzdem lassen viele, viele Safranskis den Biographienberg wachsen. Und – dies ist die andere Seite des Phänomens –  ihr Gewerbe blüht, obwohl nach 1945 immer schriller der „Tod des Individuums“ und der „Tod des Autors“ ausgerufen worden ist. Als besonders einflußreich erwiesen sich dabei die Thesen der französischen Meisterdenker Roland Barthes und Michel Foucault. In ihren Theorien spielt der Autor keine Rolle mehr, folglich kann das sich bei ihnen in „Texte“ und „Diskurse“ auflösende Werk eines Dichters nicht mehr über seine Biographie erschlossen werden, die ihrerseits nur ein „Narrativ“ ist, ein nur scheinbar kohärentes erzählerisches Konstrukt. Das entzog nicht nur der Populärbiographie, sondern auch der wissenschaftlichen Biographik den Boden. Denn, so die Germanistin Helga Arend zur aktuellen Lage der Biographieforschung (Wirkendes Wort, 2/09): „Wenn es kein Subjekt gibt, dann kann es auch nicht erforscht werden.“ So ist die gegenwärtige Situation geprägt durch „zwei Kulturen des Selbst in der Postmoderne“ (Heinz-Günter Vester): einerseits das philosophisch dekretierte „Aus des Ichs“, andererseits der darum unbekümmerte Alltag einer „Verherrlichung des Individuums“, die den Biographenboom befeuert.

Ungeachtet dieses Gegensatzes glaubt Arend in der jüngsten Entwicklung der literaturwissenschaftlichen Biographik Ansätze zu einer „Rehabilitierung“ des Metiers zu erkennen, ohne Zugeständnisse an den Illusionismus vor Barthes & Co. machen zu müssen. Ihr Ausgangspunkt sind die vier Kleist-Biographien von Jens Bisky, Gerhard Schulz, Peter Staengler und Herbert Kraft, die 2007, im 230. Geburtsjahr des preußischen Ikarus, erschienen.

Vor allem die am stärksten methodisch reflektierte Arbeit, nämlich die von Schulz, liefert ihr die Argumente, um der wissenschaftlich seriösen Dichterbiographie eine günstige Prognose zu stellen. Freilich begeht auch Schulz, wenn auch nicht so penetrant wie Bisky, einen Kardinalfehler moderner Biographen: die Aufhebung zeitlicher Distanz. Derart vorausgesetzte, dem Leser „Aktualität“ vorgaukelnde Nähe zwischen dem Biographen und seinem „Helden“ arbeitet mit der problematischen anthropologischen Konstanz eines „ewig“ konstanten psychischen Haushalts, so daß im 21. Jahrhundert jedermann eingeladen ist, sich in die Mentalität der Bewohner der Ära Kleists „einzufühlen“. Damit, so Arend, verlasse der Biograph aber das von „den Franzosen“ vorgegebene Niveau. Erste Grundregel sei also, gerade die Schichten dichterischer Persönlichkeiten zu konturieren, die uns fremd sind, da nur aus der Distanz „neue Erkenntnisse über die beschriebene Zeit“ zu gewinnen seien.

Ferner, und dem trage Schulz Rechnung, müsse die „Konstruiertheit von Lebensbeschreibungen“ stets bewußt gemacht werden, um nicht falsche „Einheitlichkeit einer Person“ zu vermitteln. Darum hüte sich Schulz etwa, Kleists Briefe naiv als Quellen für sein Leben auszuwerten. Er intendiere keine „Konsequenz oder Schlüssigkeit eines Lebens“, stifte keine voreiligen kausalen Zusammenhänge. Seine Kleist-Biographie profitiere von dieser offenbar den „Meisterdenkern“ gedankten Sensibilität, da er nicht für alle „Leerstellen“ krampfhaft nach „Zusammenhängen und Erklärungen“ suche.

Am besten, so scheint Arends Resümee nahezulegen, sollten sich mehrere Wissenschaftler zu einem „Biographie-Projekt“ zusammenfinden. Damit sei die interdisziplinäre, „multiperspektivische Betrachtungsweise“ garantiert, die dem liquiden Konstruktionscharakter einer „Person“ adäquat sei. Warum aber gerade „Kleists extrem franzosenfeindliche nationale Lyrik“ zur Bewährungsprobe solcher Kooperation der Biographen werden soll, verrät die Verfasserin nicht.

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