© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/09 13. November 2009

Stalins Kader in aller Welt
Die Gleichschaltung des weltweiten Kommunismus im Stalinismus und die Parteilichkeit vieler Intellektueller im Westen
Klaus Motschmann

Nach dem marxistischen Grundprinzip der „Parteilichkeit“ in der wissenschaftlichen und politischen Auseinandersetzung ist das Verhalten der europäischen Linksintelligenz zum sogenannten Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 in der öffentlichen Diskussion entweder überhaupt nicht oder nur in grob verzerrter Form im Trichterkreis der Reduktion auf das ideologische Erkenntnisinteresse linksintellektueller Vergangenheitsbewältigung behandelt worden. In Deutschland wird noch immer scharfe Kritik am sogenannten „Objektivismus“ geübt, das heißt an der Berücksichtigung aller Quellen in Forschung und öffentlicher Auseinandersetzung. Damit werde letztlich auf eine „Relativierung deutscher Schuld“ abgezielt – ein schwerer Verstoß gegen die Political Correctness. Wenn es sich gar nicht vermeiden läßt, dann wird der Hitler-Stalin-Pakt in bewährter Manier entweder unter dem Rubrum „Entartung des Sozialismus durch Stalin“ abgehandelt oder aber mit dem Hinweis auf die Verdienste Stalins bei der Niederringung des deutschen Faschismus relativiert.

Diese Argumentation fordert zu der Frage heraus, was die in der Kommunistischen Internationale (Komintern) vereinigten Parteien (61 bis 1936), vor allem aber ihre intellektuellen Sympathisanten in den westlichen Demokratien wie Louis Aragon, Lion Feuchtwanger, Heinrich Mann, Ernst Bloch, Bertolt Brecht und vor allem der Nobelpreisträger von 1925, George Bernard Shaw, getan haben, um diese Entwicklung zur „Entartung“ zu verhindern. Das leider vergriffene Werk des Historikers Gerd Koenen „Die großen Gesänge. Lenin, Stalin, Mao Tse-tung. Führerkulte und Heldenmythen des 20. Jahrhunderts“ (Frankfurt/M. 1991) gibt die gegenteiligen, oft peinlichen Lobgesänge auf Stalin dieser Intellektuellen gut wieder.

Wo waren die weltweiten Proteste gegen die Bolschewisierung der Komintern? Die teilweise sehr heftigen Auseinandersetzungen um die ideologische und organisatorische Formation der Komintern können nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich Stalins Konzeption durchgesetzt hat. Es ist ihm gelungen, die Komintern zu einem entscheidenden Instrument der sowjetischen Außenpolitik zu machen. Struktur und Funktion der Komintern wurden ausschließlich bestimmt durch das Prinzip der straffen ideologischen und organisatorischen Einheit, die bedingungslose Unterordnung aller kommunistischen Parteien unter die Beschlüsse der Komintern sowie die radikale Verurteilung aller Abweichungen von der jeweils beschlossenen Hauptlinie des Kampfes gegen das parlamentarische System, insbesondere gegen den sogenannten Sozialfaschismus der deutschen Sozialdemokratie, gegen den Anfang der dreißiger Jahre der „Hauptstoß“ geführt worden ist – und nicht gegen die NSDAP.

Der Rigorismus, mit dem Stalin die Bolschewisierung der Komintern und damit auch der kommunistischen Parteien der einzelnen Ländern vorangetrieben hat, läßt sich überzeugend am Verlauf und Ergebnis der Moskauer Schauprozesse 1936 bis 1938 veranschaulichen. In diesen Prozessen wurden höchste Funktionäre der KPdSU, des Staatsapparats und der Roten Armee mit absurden Begründungen als Agenten des Faschismus „liquidiert“ – und in der Folgezeit einige hunderttausend Parteimitglieder. Die Zahlenangaben schwanken erheblich.

Bemerkenswert an diesem systemimmanenten Terror der Justiz waren jedoch nicht allein die völlig absurden Anklagen und die Selbstbezichtigungen der Opfer, sondern die erbärmlichen Reaktionen zahlreicher linksintellektueller Sympathisanten Stalins – bis heute. Viele haben die Anklagen tatsächlich für wahr gehalten und damit ein erschütterndes Beispiel für ihre politische Urteilsfähigkeit abgeliefert. Für den amerikanischen Botschafter in Moskau, Joseph Davies, wurden durch diese Prozesse tatsächlich „die Fäden eines Komplotts sichtbar, das beinahe zum Sturz der bestehenden Regierung geführt hätte“.

Die Erwartung, daß sich aus den linksintellektuellen Sympathisantenkreisen in Westeuropa massive Kritik an diesem Terror gegen die eigene Partei regen würde, haben sich nicht erfüllt. Im Gegenteil: Jede Kritik, die vor allem von konservativer Seite an der stalinistischen Herrschaft geübt wurde (ihr waren bis Mitte der dreißiger Jahre mindestens zwanzig Millionen Menschen zum Opfer gefallen), wurde unter Faschismusverdacht gestellt und damit einer sachlichen Auseinandersetzung entzogen.

Noch am 20. August 1939, also kurz vor dem Abschluß des Hitler-Stalin-Paktes, protestierten etwa vierhundert amerikanische Intellektuelle und Schauspieler in einem „Offenen Brief“ gegen Vergleiche zwischen der kommunistischen Sowjetunion und dem nationalsozialistischen Deutschland und Gerüchte über eine Zusammenarbeit der Diktatoren. Es handle sich dabei um „eine ungeheure Fälschung und eine Verleumdung des sowjetischen Bollwerks gegen Krieg und Aggression“. Aber weder der Pakt mit Hitler noch die sowjetische Aggression in Mittelosteuropa gegen Polen, Finnland und das Baltikum änderte irgend etwas am euphorischen Urteil über die „Lichtgestalt“ Stalin.

Sie dokumentierten damit in dankenswerter Offenheit die disziplinierenden Wirkungen eines parteilichen Denkens. Dazu bemerkte Jürgen Kuczynski, einer der wenigen herausragenden Marxisten, die sich die Fähigkeit zu eigenem Denken bewahren konnten: „Echte Diskussionen, Meinungsstreit wurden in der ‘Stalinzeit’ unterbunden. (...) Mangelnder Meinungsstreit aber muß unter allen Umständen für die Wissenschaft und auch auf anderen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens gefährlich sein. Ich würde sagen, die Folgen der ‘Stalinzeit’ sind heute noch in vielen von uns, sicherlich auch in mir, spürbar, ohne daß wir uns dessen bewußt sind.“

Foto: „Es lebe der Führer der Völker – der große Stalin – Schöpfer der Verfassung des siegreichen Sozialismus und der wahren Demokratie!“, Propagandaplakat von 1933: Wo waren die Proteste?

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