© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/09 13. November 2009

Zu keiner Zeit eine Volksbewegung
Bogdan Musial und Alexander Brakel analysieren den Partisanenkrieg gegen die deutsche Besatzung in Weißrußland 1941 bis 1944
Dag Krienen

Zu den staatstragenden russischen Mythen des „Großen Vaterländischen Krieges“ von 1941 bis 1945 gehört auch die Legende vom entschlossenen Widerstand des ganzen Volkes gegen den „faschistischen Aggressor“. Dieser Widerstand manifestierte sich demnach in den okkupierten Gebieten in einer machtvollen, von der ganzen Bevölkerung getragenen patriotischen Partisanenbewegung, die immer wieder harte Schläge austeilte und maßgeblich zur deutschen Niederlage beitrug.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Öffnung der Archive in den neunziger Jahren ist an diesem Mythos wiederholt gekratzt worden. Doch mittlerweile wird in Rußland und vor allem im heutigen Weißrußland der Partisanenkrieg von 1941 bis 1944 wieder reglorifiziert. Das war einer der Gründe, warum der polnische Historiker Bogdan Musial sich daranmachte, diesen Mythos gründlich zu demontieren. Nachdem er 2004 zunächst einen Dokumentenband „Sowjetische Partisanen in Weißrußland. Innenansichten aus dem Gebiet Baranovici 1941–1944“ herausgegeben hat, legt er nun eine voluminöse Studie über die Geschichte der Partisanenbewegung im gesamten Weißrußland nach. Zeitgleich und im gleichen Verlag ist die leicht überarbeitete Fassung der 2006 erstellten Doktorarbeit von Alexander Brakel über das „westliche Weißrußland unter sowjetischer und deutscher Besatzung“ erschienen, in der die Geschichte der dortigen sowjetischen Partisanenbewegung eine breite Darstellung erfährt.

Bemerkenswert ist, daß beide Autoren weitgehend unabhängig voneinander, auf der Basis neu erschlossener russischer und weißrussischer Quellenbestände, trotz unterschiedlicher Erkenntnisinteressen und Herangehensweisen zu im wesentlichen übereinstimmenden Urteilen über die Partisanenbewegung gelangen. Sowohl Musial als auch Brakel heben hervor, daß die weißrussische Partisanenbewegung, auch wenn sie bis 1944 zu erheblicher Größe anschwoll (gut 140.000 Partisanen Anfang Juni 1944), zu keiner Zeit eine Volksbewegung im eigentlichen Sinne war, die sich auf die freiwillige Unterstützung des größten Teils der Bevölkerung in den von den Deutschen besetzten Gebieten stützen konnte. Diese war vielmehr, insbesondere in den westlichen Teilen Weißrußlands, die bis 1939 zu Polen gehört hatten, den einmarschierenden Deutschen anfangs eher freundlich gesinnt.

Bis Ende 1941 konnte von einem Partisanenkrieg in Weißrußland kaum die Rede sein. Zwar wurden die zurückgebliebenen Sowjetfunktionäre und NKVD-Mitarbeiter von Moskau dazu angehalten. Da man aber 1937 im Zuge des Wechsels zu einer rein offensiven Militärdoktrin alle Vorbereitungen für einen Partisanenkrieg liquidiert hatte, zeigten diese Bemühungen wenig Erfolg. Ähnliches gilt für die Aktivitäten eingeschleuster kleiner Gruppen von Sabotageagenten der militärischen Aufklärung. Für den Auf- und Ausbau der weißrussischen Partisanenbewegung ab 1942 war eine ganz andere Gruppe maßgeblich: Die sogenannten „Eingekreisten“, das heißt im Zuge der großen Kesselschlachten von 1941 versprengten sowie aus der Kriegsgefangenschaft entflohene und teilweise auch entlassene Rotarmisten, die sich angesichts des ruchbar gewordenen miserablen Schicksals der sowjetischen Kriegsgefangenen dem weiteren deutschen Zugriff um jeden Preis entziehen wollten. Unzählige von ihnen bildeten im Herbst 1941 „Überlebensgruppen“ in den ausgedehnten Wald- und Sumpfgebieten oder schlüpften auch bei den Bauern der Umgebung als Arbeiter unter. Nur wenige dieser Gruppen um einige fähige „eingekreiste“ Offiziere betrieben einen aktiven Partisanenkrieg, die meisten zeigten anfänglich wenig Neigung, aktiv gegen die Besatzer vorzugehen.

Unter dem Eindruck der Winterkrise 1941/42 an der Front griffen die deutschen Besatzungsbehörden im Frühjahr zu Maßnahmen, die sich als ausgesprochen kontraproduktiv erweisen sollten. Mit völlig unzureichenden militärischen Kräften ausgestattet, aber darauf fixiert, um jeden Preis die „Befriedung“ des rückwärtigen Gebiets und dessen maximale wirtschaftliche Ausnutzung sicherzustellen, setzten sie auf gewaltsame Einschüchterung der Bevölkerung. Sie gingen nicht nur gegen die Partisanen, sondern gegen alle vor, die sie verdächtigten, „Bandenhelfer“ zu sein. Für Musial war es vor allem die im April 1942 unter Androhung der Todesstrafe ergangene deutsche Aufforderung an alle Versprengten und ehemaligen Kriegsgefangenen, sich zum Arbeitseinsatz zu melden, die die Partisanenbewegung 1942 in Schwung brachte. Dies, ebenso wie die späteren deutschen Bemühungen zur zwangsweisen Rekrutierung von Arbeitskräften trieb den Partisanengruppen immer wieder neue Menschen zu.

Mit diesen gelang den Partisanen eine erhebliche Ausweitung der Größe ihrer Verbände und die Etablierung größerer Partisanenzonen, in denen die Besatzer und ihre einheimischen Helfer keine Macht mehr besaßen. Allerdings wurde das weitere Anwachsen der Partisanenbewegung nicht nur vom Zustrom freiwilliger Einheimischer getragen, die sich ihnen nur in Ausnahmefällen aus ideologischen oder patriotischen Motiven anschlossen, sondern sich in der Regel deutschem Druck oder deutschen Gewaltmaßnahmen entziehen wollten. In „ihren“ Gebieten gingen die Partisanen ebenso zur rücksichtslosen Zwangsrekrutierung von jungen Männern über, die teilweise ihrerseits vor den Partisanen „in die Wälder“ flüchteten.

Trotz des numerisch beeindruckenden Wachstums der Bewegung ab 1942 fällt die militärische Bilanz des Partisanenkrieges in Weißrußland recht mager aus. Ihm fiel nicht, wie es der Mythos will, fast eine halbe Million deutscher Soldaten zum Opfer, sondern nur etwa 7.000. Hinzu kommt eine größere Zahl einheimischer Polizisten und Schutzmannschaften, insgesamt vielleicht 35.000 bis 50.000 Mann. Da die meisten der in Weißrußland eingesetzten Besatzungsverbände nicht fronttauglich waren, erfolgte weder durch deren Dezimierung noch deren örtliche Bindung eine nennenswerte Schwächung der Front. Auch der ab 1943 propagierte „Schienenkrieg“ der Partisanen gegen die deutschen Verkehrswege blieb weit hinter den Erwartungen zurück und konnte zu keinem Zeitpunkt den deutschen Nachschub effektiv unterbinden. Die militärische Aufklärung für die Rote Armee zeitigte kaum brauchbare Ergebnisse. Einzig die unterbundene wirtschaftliche Nutzung großer Teile des weißrussischen Gebietes und die allgemeine Verunsicherung der Besatzer im Hinterland können zu den realen Erfolge der Partisanen gezählt werden.

Die strategische Bedeutungslosigkeit des Partisanenkrieges in Weißrußland hatte mehrere Ursachen. Zwar konnten sich die Partisanen anfangs mit den auf den Schlachtfeldern von 1941 zurückgelassenen Waffen versorgen, doch insgesamt blieb ihre logistische Basis trotz gelegentlicher Luftversorgung schmal. Waffen und vor allem Munition sowie Sprengstoff für Sabotageaktionen blieben immer Mangelware. Noch wichtiger war, daß es viel zu wenig Funkgeräte gab. Obwohl ab 1942 mit dem Zentralstab der Partisanenbewegung und untergeordneten regionalen Stäben eine auf den ersten Blick straffe Befehlsstruktur geschaffen wurde, fehlte es an Kommunikationsmöglichkeiten, um die Partisanenbewegung zu einer einheitlich geleiteten und operierenden Streitmacht umzubilden. Es blieb bei einer Vielzahl von einzelnen „Brigaden“ unter lokalen Kommandeuren von sehr unterschiedlicher Qualität, die nur sehr mühsam koordiniert werden konnten.

So wundert es nicht, daß die meisten Partisanengruppen nur wenige direkte Schläge gegen die Deutschen führten, sondern sich mit der Bekämpfung ihrer einheimischen Helfer wie Dorfschulzen, Bürgermeister und Polizisten sowie Terror gegen jeden, der, ob gezwungen oder nicht, für die Deutschen arbeitete, begnügten. Die wichtigsten, in vielen Fällen aber auch fast die einzigen Aktionen waren „Wirtschaftsoperationen“ – die Beschaffung von Lebensmitteln, Schnaps und anderen Verbrauchsgütern bei der bäuerlichen Bevölkerung. Diese gab den Partisanen im allgemeinen entgegen dem Mythos nicht freiwillig und in Freuden, sondern meist nur gezwungenermaßen und unter Androhung von roher Gewalt. Bestenfalls nahmen die Partisanen eine gewisse Rücksicht auf bäuerliche Lebensbedürfnisse, in vielen Fällen wurde aber rücksichtslos geplündert, gebrandschatzt, vergewaltigt und gemordet. Für die meisten Bauern in Weißrußland waren die Partisanen  schlicht Räuberbanden.

Echten Schutz gegen deutsche Truppen und Beschlagnahmeaktionen konnten die Partisanen der einheimischen Bevölkerung im Gegenzug fast nirgends bieten. Denn bei größeren feindlichen Militäraktionen wichen sie aus, soweit sie konnten. Den Bauern in den Partisanengebieten drohte dann als „Bandenhelfer“ die deutsche Vergeltung durch Niederbrennung ihrer Dörfer und die Ermordung oder Deportation ihrer Einwohner. Auch die jüdischen Überlebenden der deutschen Verfolgungs- und Vernichtungsmaßnahmen fanden nur in seltenen Fällen bei den Partisanen Schutz und Aufnahme, wie überhaupt diese Vernichtung von der weißrussischen und der polnischen Bevölkerung ohne viel Aufhebens hingenommen wurde.

Musial und Brakel heben immer wieder die verzweifelte Situation hervor, durch die große Teile der Bevölkerung Weißrußlands nach der Entfesselung des Partisanenkriegs gerieten. In der Masse wollten sowohl die Weißrussen als auch die Polen und wohl auch die Juden, denen die ideologisch motivierten, wenn auch als Partisanenprävention „rationalisierten“ Vernichtungsabsichten von SD und SS dazu keinerlei Chance ließ, den Krieg möglichst heil und ohne Parteinahme überstehen. Doch ließ ihnen die Gewaltpolitik sowohl der Besatzungsmacht als auch der sowjetischen Partisanen (sowie in den ex-polnischen Gebieten auch der dort aktiven polnischen Untergrundarmee) oft keine andere Wahl, als Partei zu ergreifen.

Dabei spielte im allgemeinen politisch-ideologische Nähe oder ethnische Zugehörigkeit kaum eine Rolle. Die meisten optierten für jeweils die Seite, deren Gewalt sie am jeweiligen Ort mehr fürchten mußten. In den größeren Städten und entlang den wichtigen Bahnlinien bedeutete dies eine Entscheidung für die Deutschen, in den Partisanenzonen in den Wäldern für die Partisanen und örtlich auch für die polnische Armia Krajowa. So stellte der Partisanenkrieg auch – und was die Menschenverluste angeht, sogar vornehmlich – einen Bürgerkrieg dar, mit oft mehr gezwungenen als freiwilligen Kämpfern auf allen Seiten. Vor allem fielen ihm Hunderttausende Zivilisten zum Opfern, die zuvor zumeist unfreiwillig zu „Bandenhelfern“ bzw. „faschistischen Helfershelfern“ geworden oder einfach dazu deklariert worden waren. Brakel resümiert: „So verständlich der Untergrundkampf gegen das unbarmherzige deutsche Besatzungsregime war, für die Bewohner der Oblast Baranowicze wäre es besser gewesen, wenn er nicht stattgefunden hätte.“ Das gilt wohl nicht nur für den Bezirk Baranowicze, sondern für das gesamte Weißrußland und die meisten Partisanenkriege in der Welt.

Erfreulich ist, daß unabhängig voneinander sowohl ein polnischer als auch ein deutscher Historiker den Mut gefunden haben, dies klar herauszuarbeiten sowie das auch in Deutschland verbreitete Bild des heroischen Freiheitskämpfers, dem nur die wenigsten sowjetischen Partisanen entsprachen, gründlich zu demontieren. Die Zugeständnisse, die Musial und Brakel dabei an historiographische Moden und den Zeitgeist machen, erscheinen daneben verzeihlich.

Bogdan Musial: Sowjetische Partisanen 1941–1944, Mythos und Wirklichkeit. Schöningh Verlag, Paderborn 2009, gebunden, 592 Seiten, 39,90 Euro

Alexander Brakel: Unter Rotem Stern und Hakenkreuz: Baranowicze 1939 bis 1944. Das westliche Weißrußland unter sowjetischer und deutscher Besatzung. Schöningh Verlag, Paderborn 2009, gebunden, XII und 426 Seiten, Abbildungen, 39,90 Euro

Foto: „Komsomolzen im Hinterland“, Propagandafoto der Partisanen von 1942: Wirkungsgrad gering

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