© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/09 13. November 2009

Tag der Befreiung
20 Jahre Mauerfall: Wie Berlin fröhlich an den 9. November 1989 erinnert
Christian Vollradt

Heute wird gefeiert, daß wir wieder in einem Land leben – und in Freiheit. Weißt du, früher gab’s hier eine Grenze mit einer hohen Mauer, streng bewacht, da konnte man nicht so einfach ’rüberlaufen!“ Ein Vater hat sich zu seinem vierjährigen Sohn heruntergebeugt und erklärt ihm, warum sich so viele Menschen versammelt haben, warum Fahnen geschwenkt und Reden gehalten werden.

Berlin, 9. November 2009, 15 Uhr an der Bornholmer Straße. Die Bösebrücke ist heute wieder geteilt; nicht wie früher entlang der Sektorengrenze zwischen Ost und West, sondern parallel zu den Straßenbahnschienen. Absperrgitter halten die Besucher auf Abstand zu den Prominenten, den Staatsgästen und den früheren Bürgerrechtlern, die an der ehemaligen Grenzübergangsstelle, an der sich vor zwanzig Jahren die Schlagbäume hoben, symbolisch von Ost nach West schreiten. Die Szenen von damals sind auf großflächigen Fototafeln abgebildet. Jetzt drängen sich ältere Menschen und Familien mit Kinderwagen trotz Nieselregens entlang den Stahlbögen.

Die Atmosphäre ist fröhlich und entspannt, die Polizisten haben kaum etwas zu tun. Nur als Kanzlerin Merkel und der ehemalige polnische Präsident Lech Walesa in Sichtweite kommen, gibt es Gedränge und Geschiebe. Vereinzelte Rufe: „Solidarnosc“, ein paar ältere West-Berliner schwenken eine Deutschlandfahne, an deren Schaft kleine Flaggen der früheren Westmächte befestigt sind.

 

Stunden vorher. Um 9.30 Uhr in Prenzlauer Berg. Die Evangelische Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofskonferenz laden zum Ökumenischen Gedenk-Gottesdienst in der Gethsemane-Kirche (Prenzlauer Berg).

 In der Nacht zuvor sind an das Gotteshaus Anschläge geklebt wurden. Darauf steht in großen Lettern: „Wir sind ein Volk! Und Ihr seid ein anderes – Ostberlin, 9. November 2009“. In der vollbesetzten Kirche, über deren Eingang das Jesus-Wort „Wachet und betet“ (Markus 14, 32–41a) gespannt ist, spielt diese Guerilla-Aktion keine Rolle. In der ersten Bankreihe sitzen die Häupter sämtlicher Verfassungsorgane: die Bundeskanzlerin sowie der Bundespräsident und die Präsidenten von Bundestag und Bundesverfassungsgericht.

Bischof Wolfgang Huber eröffnet den Ökumenischen Gottesdienst und erinnert an den Oktober 1989, als vor dieser Kirche 500 Menschen verhaftet wurden. „Wachen und beten“ – so Hubers Reflexion – „gehören zusammen“. Heute gelte es, gegen die Verklärung der DDR anzugehen. Nach ihm ergreift Erzbischof Georg Kardinal Sterzinsky das Wort: „Auch Christen tragen Schuld, daß Gottes Gesetze gebrochen werden.“ Er bittet: „Herr, zeig uns auch heute die Wege der Befreiung!“

 

10 Uhr. Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße. Andacht in der Kapelle der Versöhnung. Hier, wo sich heute noch eines der größten zusammenhängenden Mauerstücke an originaler Stelle befindet und der unmittelbare Riß zwischen dem ehemaligen West- und Ostteil der Stadt am sichtbarsten ist, spielten sich in den ersten Tagen und Wochen nach der Errichtung der Mauer besonders dramatische Szenen ab.

Aus diesem Grund sind an diesem Ort im Gegensatz zu den späteren Festveranstaltungen eher die leisen Töne zu hören. So spricht Theo Mittrup im Namen der Union der Opferverbände der kommunistischen Gewaltherrschaft nicht nur über die berechtigte Freude über den 9. November 1989, sondern auch darüber, daß Freiheit und Demokratie auch heute noch keineswegs eine Selbstverständlichkeit darstellen. Auch erinnert Pfarrer Manfred Fischer an die Sprengung der Versöhnungskirche im Januar 1985, die sich bis dahin fast an der gleichen Stelle – direkt am Todesstreifen – befand. Tatsächlich war dieser Zerstörungsakt „nur noch ein letztes Zucken der Diktatur“, so Fischer. 

Ein deutliches Zeichen gegen das Vergessen der Verbrechen der kommunistischen Diktatur soll ebenso von dem neuen Besucherzentrum der Gedenkstätte an der Bernauer Straße ausgehen, welches an diesem Vormittag offiziell eingeweiht wird. Zumindest an diesem naßkalten Novembertag vermag es diese Botschaft klarer zu vermitteln als die Kerzen, die von zahlreichen Besuchern zwar immer wieder entzündet werden, aber aufgrund des unfreundlichen Wetters meist schnell wieder verlöschen.

 

Ortswechsel. Auf dem Weg nach Berlin-Mitte, gegen 16.30 Uhr. Eine Gruppe junger Italiener ist begeistert: „Großartig“ finden sie das „Fest der Freiheit“ in der deutschen Hauptstadt. Besonders, daß so viele berühmte Politiker aus ganz Europa zu sehen sind. Auch sie waren gerade an der Bornholmer Straße. Berlin sei überwältigend. Und so eine tolle Stimmung herrsche überall. Die Studenten kommen aus der Nähe von Venedig und sind insgesamt fünf Tage in der Stadt, vor allem wegen der Feiern zum 9. November. „Eigentlich zu kurz“, sagt einer. Die echte Mauer hat keiner von ihnen mehr gesehen, und es fällt offenbar schwer, sich Todesstreifen und Schießbefehl mitten in Berlin vorzustellen. Können sie sich noch an den „echten“ 9. November erinnern? Ja, das sei damals alles im Fernsehen gelaufen. Obwohl sie noch kleine Kinder waren, haben die Bilder bei ihnen offenbar einen großen Eindruck hinterlassen. „Das hatte ja auch Bedeutung für ganz Europa“, ist sich ein Student sicher.

 

Friedrichstraße, Ecke Unter den Linden, 18 Uhr. Auf ausländische Besucher übt die ganze Feier offensichtlich eine ungeheure Anziehung aus: Schon ein Fleck von wenigen Quadratmetern wird von zahlreichen unterschiedlichen Mundarten erfüllt – Belgier, Niederländer, Dänen, Engländer, Amerikaner und vor allem: Franzosen. Obwohl es mittlerweile in Strömen regnet, treffen immer mehr Menschen ein. Unter Schirmen oder Regenumhängen harren sie geduldig an den Gittern vor den überdimensionierten Dominosteinen, die entlang dem Mauerverlauf aufgestellt worden sind.

Glühwein und Bratwürste – Volksfeststimmung. Einige Touristen aus Norddeutschland stören sich an den weiträumigen Absperrungen: „Man wird hier irgendwie ziemlich ausgegrenzt. Alles nur reserviert für die hohen Tiere.“  Als aber schließlich der spanische Operntenor Placido Domingo den alten Schlager „Berliner Luft“ anstimmt, wogen die triefnassen Schirme schunkelnd mit.

 

Ebertstraße, zwischen Brandenburger Tor und Reichstag, gegen 19.45 Uhr. Ein älteres Paar steht untergehakt und sieht sich die Reden der Staatsgäste auf der Videowand an. „Den 9. November 1989 hätten wir fast verschlafen“, berichtet der Mann, der damals mit seiner Familie in Ost-Berlin lebte. „Wir sind selbst erst am 11. November in den Westen gefahren. Am Tag zuvor war kaum einer auf Arbeit. Und die, die da waren, haben bloß vom Ku’damm geschwärmt. Unser Sohn hatte die Pressekonferenz mit dem Schabowski im Fernsehen gesehen und gefragt, ob das gut ist, wenn jetzt die Mauer aufgeht. Man konnte ja nicht wissen, daß das alles so friedlich abläuft.“

Sichtlich gerührt erklärt seine Frau, welche Bedeutung der Mauerfall für sie persönlich hatte: „Am Tag, als die Mauer 1961 gebaut wurde, war ich ein kleines Mädchen und gerade zu Besuch bei meiner Tante in West-Berlin; meine Mutter war im Osten – es war schrecklich. „Das Fest finden die beiden Berliner toll. „Vor zehn Jahren fand ja fast überhaupt nichts statt. Jetzt ist die Zeit reif dafür!“ Daß es eher ausgelassen denn besinnlich abläuft, stört sie nicht. „Der 9. November – das ist doch ein Tag zum Feiern!“

Foto: Unter dem Jubel Zigtausender fällt am Berliner Reichstagsgebäude die symbolische Mauer aus Dominosteinen: Trotz strömenden Regens ließen sich die Besucher aus aller Welt nicht die Stimmung verderben

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