© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/09 13. November 2009

Zeichen des Verfalls
Italiens Vize-Parlamentspräsident Rocco Buttiglione über das Kruzifix-Urteil
Rocco Buttiglione

Wer hat dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (ECHR) das Recht gegeben, darüber zu entscheiden, welche religiösen Symbole in einer italienischen Schule gezeigt werden sollen und welche nicht? Dies ist die erste Frage, die ich mir gestellt habe, als ich über das Urteil, Kruzifixe in Klassenzimmern verstießen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention, informiert wurde (siehe Bericht Seite 10).  

Hätte der Richterspruch besagt, jeder Mensch habe das Recht, im öffentlichen Raum die Zeichen des eigenen Glaubens und der eigenen Kultur sichtbar zu tragen, hätte ich dagegen nichts einzuwenden. Die Art und Weise, wie sich dieses Recht praktisch konkretisiert, soll aber in der besonderen Situation von dem dort Verantwortlichen entschieden werden. Es hat keinen Sinn, jüdische Symbole aufzuhängen, wo keine jüdischen Studenten sind, und es muß auch berücksichtigt werden, ob religiöse Symbole dazu mißbraucht werden, junge Leute zum Kampf gegen die Mitschüler aufzurufen.

Der Europäische Gerichtshof hat aber nicht ein Freiheitsrecht bekräftigt, sondern einer Minderheit das Recht gegeben, die Mehrheit daran zu hindern, die eigene Identität in der Öffentlichkeit auszudrücken. Ein solcher Vorgang ist nur dann denkbar, wenn Religion als Schande betrachtet wird, die in der Privatsphäre leider eben noch toleriert werden muß.

Statt religiöse Symbole aus der Öffentlichkeit zu verbannen, sollten wir jungen Menschen Respekt und Achtung vor den Symbolen aller Religionen beibringen. Sie haben alle einen hohen kulturellen, wenn auch – selbstverständlich – nicht denselben religiösen Wert. Auch wenn einige Passagen der Urteilsbegründung dies ausdrücklich verneinen wollen, ist klar, daß hier Religion wie das Rauchen betrachtet wird: schädlich für dich, und für die anderen auch! Um die Absurdität dieses Prinzips klar zu erkennen, genügt es, konsequent einzuwenden: Schweinefleisch ist ein Ärgernis für andere Religionen. Es wäre also nicht mehr in Kasernen auf Kosten des Staates zu servieren. Und natürlich sollte Dantes „Göttliche Komödie“ in den Schulen nicht mehr gelesen werden.

Dazu kommt ein weiterer Punkt: Das Kreuz ist ein religiöses, aber auch ein ziviles Symbol, das die Geschichte unserer Nationen tief geprägt hat. Es hat eine große Bedeutung auch für viele unter denen, die nicht glauben, daß Jesus der Sohn Gottes ist, die aber erkennen, daß ohne christliche Werte unsere Zivilisation undenkbar wäre. Warum sollten die italienischen Schüler ihrer Kreuze beraubt werden und die britischen Bürger auf ihrer Flagge nicht nur eines, sondern sogar drei Kreuze behalten?              

Was in der Gesetzesauslegung dieses Gerichtshofes fehlt, ist der Sinn für die Geschichte und eine Einsicht in die Wirklichkeit der Nationen und der nationalen Kulturen. Unsere Völker haben eine durch die Geschichte gewachsene Kultur. Die Religion ist eines ihrer Elemente, ist so fest darin eingeflochten, daß sie nicht einfach von ihr zu trennen ist. Man kann sich kaum eine europäische Kultur ohne christlichen Hintergrund vorstellen. Dieser Hintergrund gilt auch für jene, die religiös „unmusikalisch“ sind. Natürlich ist er nicht frei von Widersprüchen. Das geschichtliche Gedächtnis Europas umfaßt die materialistische Aufklärung ebenso wie die Romantiker die sich ihr entgegengestellt haben. Diesem nationalen Gefühl gehören, um nur ein Beispiel aus einer nationalen Kultur – und zwar der französischen – herauszuheben, ebenso Condorcet wie auch Chateaubriand an.

Wie unsere so bunte, reiche und widerspruchsvolle Vergangenheit auszulegen ist, bleibt ein Problem, das jede Generation zu enträtseln hat. Identität ist ein beweglicher Begriff, der immer wieder neu formuliert und interpretiert werden muß. Jede Interpretation soll aber dem ganzen Reichtum dieser Vergangenheit Rechnung tragen und kann keine grundlegende Seite des europäischen Abenteuers in der Geschichte vernachlässigen. Nehmen wir zum Beispiel Hegel, der zwischen Romantik und Aufklärung vermittelt hat. Er hat dabei keineswegs die Bedeutung des Christentums für Europa verneint oder in Frage gestellt. Er hat freilich diese Bedeutung neu („immanentistisch“) interpretiert.

Wir, die Europäer, werden wahrscheinlich miteinander ewig über den richtigen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Elementen unserer Kultur streiten. Gerade durch diesen Streit soll unsere Kultur weiter wachsen. Es scheint heute jedoch – und dies ist vielleicht ein Zeichen des Verfalls unserer Zivilisation –, daß einige dieses kulturellen Erbes müde geworden sind. Sie behaupten, daß der Markt, das eigennützige Interesse, genüge, um die Menschen zusammenzuhalten. Sogar der Markt jedoch ist Ergebnis einer Geschichte, die sich nicht zufällig in christlichen Ländern und innerhalb einer christlichen Kultur vollzogen hat. Wir können nicht die gemeinnützigen Werte des Christentums behalten, wenn wir zugleich die religiöse Erfahrung restlos verdrängen, der sie ihr Dasein verdanken.  

 

Prof. Dr. Rocco Buttiglione, 61, ist Vize-Präsident des italienischen Parlaments. Der Christdemokrat (UdC), persönliche Berater Papst Johannes Pauls II. und ehemalige Europa- und Kultusminister Italiens fiel 2004 als Kandidat für die Europäische Kommission wegen seiner christlichen Überzeugung in der Frage der Homosexualität einer Kampagne zum Opfer (JF 49/05).

Foto: Europäischer Entsorgungsdienst

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