© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/09 06. November 2009

Keine Tischordnung ist ewig
Als Ausländer in der Nacht der deutschen Einheit
Elliot Neaman

Von 1982 bis 1985 lebte ich, ein junger Kanadier, in Berlin, wo ich Geschichte und Philosophie an der Freien Universität studierte. 1985 schloß ich meinen Magister bei Ernst Nolte mit einer Arbeit über die Junghegelianer ab. Die Arbeit an meiner Dissertation, einer kritischen Rezeption Ernst Jüngers, führte mich im Frühjahr 1988 hierher zurück. Berlin wurde mir zur zweiten Heimat, und wie viele Berliner lernte ich unsere Isolation im Herzen der DDR zu schätzen. Ich glaube, ich spreche für viele meiner Inselnachbarn, die wir von den Ereignissen im November 1989 überwältigt, begeistert und schließlich in tiefe Verwirrung gestürzt wurden.

Marx-Engels-Ausgabe als Dämmstoff

Die DDR kam uns vor wie ein Land, in dem die Zeit stillstand: hermetisch vom Weltgeschehen abgeriegelt, erdrückend provinziell und kleinbürgerlich. So inbrünstig ich dieses Land verabscheute, hätte ich doch nie im Leben mit seinem baldigen Ende gerechnet. Freunde und Bekannte, die mich besuchten, wollten diese dystopische Welt mit eigenen Augen sehen. An der Grenze tauschten wir pflichtgemäß 25 harte D-Mark gegen 25 Mark Spielgeld. Drüben gab es herzlich wenig, was wir davon hätten kaufen wollen. Jenseits der Mauer lag eine graue Welt, in der absurde und willkürliche Regeln herrschten. Einmal gingen wir zu fünft in ein fast leeres Restaurant. Der Kellner erklärte, beinahe alle Tische seien reserviert, und wies uns einen Vierertisch zu. Als wir einen fünften Stuhl dazustellen wollten, kam er sofort angelaufen, schüttelte nachdrücklich den Kopf und sagte: „Die Tischordnung bleibt, wie sie ist.“ Schließlich mußte einer von uns alleine an einem Tisch sitzen. Uns schienen die Worte des Kellners ein gutes Motto für sein ganzes Land zu sein.

Die herrschende Ideologie traf den Besucher wie ein Schlag ins Gesicht. Ich erinnere mich an ein Plakat in einem U-Bahnhof, auf dem zu sehen war, wie Ronald Reagan Atomraketen auf Babys schleuderte. Im Museum für Deutsche Geschichte begann der Rundgang mit einer Ausstellung zum „primitiven asiatischen Kommunismus“ und endete in einem großen Saal, wo als Gipfel der menschlichen Evolution der deutsche Arbeiter- und Bauernstaat zu bestaunen war.

Bei einem meiner Besuche lernte ich einen Studenten der Ingenieurswissenschaften kennen, mit dem ich mich anfreundete. Von nun an trafen wir uns regelmäßig in einem Café, wobei wir immer vorsichtig waren – aus Angst, daß die Stasi mithörte. Meine Regale füllten sich mit der blau gebundenen Marx-und-Engels-Ausgabe aus einer Buchhandlung Unter den Linden, wo es alte Reclam-Klassiker und mittelmäßige Sinfonieaufnahmen zu kaufen gab. Als ich alle Bände hatte, schenkte ich die Bücher, die ich mit meinem Zwangsumtauschsatz kaufte, meinem neuen Freund. Auf meine neugierige Nachfrage, was er damit vorhatte, erwiderte er: „Ach, meine Wohnung ist kalt. Deswegen habe ich die Wände aufgerissen und die dicken Bände reingestopft, um sie zu isolieren.“ Ob es das war, was Marx sich unter „Praxis“ vorstellte?

Zufällig war ich am 9. November 1989 mit dem Auto von Aachen nach Berlin unterwegs. Gut möglich, daß ich zu den letzten gehörte, die einen der Grenzübergänge südlich von Berlin passierten. Es war ein sehr kalter Abend, und ich erinnere mich, wie ich mich zusammen mit Freunden aufmachte, um die Ereignisse am Brandenburger Tor nicht zu verpassen. Wie Tausende andere kamen wir nicht wirklich dicht heran. Teils lag das an den Menschenmassen, teils daran, daß Fernsehkameras von Sendern aus der ganzen Welt längst vor Ort waren und uns den Weg versperrten. In vieler Hinsicht war der Fall der Berliner Mauer ein postmodernes Spektakel: Während die Bilder – mal in Zeitlupe, mal im Zeitraffer – um die Welt gingen, um immer und immer wieder abgespielt zu werden, fanden die eigentlichen historischen Veränderungen an unterschiedlichen Schauplätzen und zu verschiedenen Zeitpunkten statt.

In Wirklichkeit passierte in dieser Nacht an der Mauer nicht viel: Ein paar Betrunkene kletterten auf ihrer einen oder anderen Seite hoch, es wurde viel gesungen und getanzt, und viele Menschen schlugen mit Hämmern Brocken aus der Mauer heraus. Erst in den nächsten Tagen, als die Menschen an den Mauerdurchbrüchen mit ihren Autos und in vollgepackten U-Bahnen nach West-Berlin strömten, wurde die historische Tragweite spürbar. Plötzlich waren die Straßen voll mit aufgedrehten Ost-Berlinern, die ihr Begrüßungsgeld gar nicht schnell genug ausgeben konnten. So sehr wir uns von ihrer Freude anstecken ließen, war für uns doch alles auf eigenartige Weise beim alten geblieben, und ich war nicht der einzige, der bisweilen gereizt auf die ständigen Störungen unseres Alltags durch Menschen reagierte, die wir als Eindringlinge in „unsere“ Stadt empfanden.

Wir, die wir den Mauerfall hautnah miterlebt haben – was erwarteten wir damals von der Zukunft? Konnten wir uns das Ende des Kalten Kriegs und den Anbruch einer „neuen Weltordnung“ vorstellen, ganz zu schweigen vom „Ende der Geschichte“? Die deutsche Wiedervereinigung? Die friedlichen Revolutionen in ganz Osteuropa, die den Zusammenbruch des Kommunismus einleiten würden? Natürlich nicht. Als die deutsche Einheit in greifbare Nähe rückte, beschäftigte mich als Historiker die Frage: Wie könnte die DDR den Wechsel vom Warschauer Pakt zur Nato vollziehen? Historische Vorbilder halfen dabei kaum weiter. Viele Staaten hatten im Laufe der Geschichte ihre militärischen Bündnispartner gewechselt, aber welche Druckmittel standen der DDR denn zur Verfügung, um dies durchzusetzen? Immerhin war die UdSSR Anfang der neunziger Jahre militärisch immer noch ein sehr mächtiger Staat. Ich erinnere mich, daß der Vorschlag aufkam, Deutschland sollte in beiden Militärbündnissen Mitglied bleiben – Margaret Thatcher, beileibe keine Befürworterin der deutschen Einheit, bezeichnete diese Idee als „lächerlich“, was sie natürlich auch war. Doch daß Michail Gorbatschow den Nato-Beitritt der DDR zuließ und dafür nichts weiter haben wollte als Geld – freilich hohe Summen Geld –, war nur eins von vielen Wundern jenes Schicksalsjahrs zwischen dem Herbst 1989 und dem Herbst 1990.

Ich würde Hegel nicht so weit folgen wollen, eine innere Logik der Geschichte zu postulieren. Und doch scheint es rückblickend, als seien die Revolutionen des Jahres 1989 von einer Art unabdingbaren Notwendigkeit vorangetrieben worden. Niemand, weder die Franzosen noch die Briten und schon gar nicht die Russen, die gerade das Auseinanderbrechen ihres eigenen Staats erlebten, vermochte sie aufzuhalten. Überraschenderweise hielten sich in den USA Debatte und Widerstand in Grenzen, vielmehr unterstützten der neue Präsident George Bush und sein Außenminister James Baker Deutschlands Bemühungen um eine Wiedervereinigung nach Kräften. Auch bei der Verlegung der Hauptstadt nach Berlin machte sich die Wucht der Geschichte bemerkbar.

Schwammige Idee des Dritten Weges abgelehnt

Der Sieg der Christdemokraten bei den Volkskammerwahlen im März 1990 war gewissermaßen folgerichtig. Er erinnerte mich an die westdeutschen Wahlen von 1949 bis 1957, als die Bürger sich nach einer Periode der Krisen und des Traumas gegen eine radikale Umwandlung ihrer Gesellschaft wandten. „Keine Experimente“, wie Konrad Adenauer damals sagte – zur tiefen Verstörung der Sozialdemokratie, die ihren Machtanspruch für ein Verdikt der Geschichte hielt. Genauso konnten sich die Initiatoren der „Wir sind das Volk“-Revolution nur schwer damit abfinden, daß die Mehrheit der Mitteldeutschen 1990 die schwammige Idee eines Dritten Weges zwischen Kapitalismus und Sozialismus ablehnte.

Die blühenden Wirtschaftslandschaften, die Helmut Kohl als „Kanzler der Einheit“ versprochen hatte, entstanden natürlich nicht über Nacht. Bis heute klaffen die Einkommen und Lebensstandards zwischen Ost und West weit auseinander. Immer wieder ist von einer psychologisch-kulturellen Mauer die Rede, die jene aus Beton ersetzt habe. Doch in einem Flächenstaat sind regionale Unterschiede normal. Die weinseligen Rheinländer können mit den nüchternen Nordlichtern nichts anfangen. Die Berliner mit ihren scharfen Zungen und ihrer Weltläufigkeit ähneln den New Yorkern, die Bayern eher den Texanern: komische Hüte, sonderbare Bräuche, trotziger Individualismus. Mitteldeutschland hat Probleme, zweifellos, und seine Menschen müssen die Last der Vergangenheit, die Erinnerung an zwei Diktaturen hintereinander tragen wie einen Fluch, der auf einer Familie liegt. Aber die Zeit steht dort nicht mehr still. Die Tischordnung bleibt nicht, wie sie ist.

 

Prof. Dr. Elliot Neaman lehrt Neuere europäische Geschichte an der University of San Francisco.

Fotos: Touristenattraktion: Am Checkpoint Charlie 1982 ..., ... und 2007

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