© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/09 06. November 2009

Ein deutscher Herbst
Szenen aus der Provinz
von Christian Dorn und Christian Vollradt

Als am 9. November 1989 die Schlagbäume geöffnet wurden, blickte alle Welt gebannt auf Berlin. Doch auch entlang der „Zonengrenze“, die Deutschland von der Ostsee bis nach Bayern teilte, wuchs die Hoffnung, der Todesstreifen könne schon bald seinen Schrecken verlieren.

Nicht anders war dies in den Städten Halberstadt im Osten und Wolfenbüttel im Westen, deren Kreisgrenzen sich berühren – und die doch für Jahrzehnte Welten getrennt hatten.

JF-Autor Christian Dorn, Jahrgang 1970, wuchs in Halberstadt auf, JF-Redakteur Christian Vollradt, Jahrgang 1973, in Wolfenbüttel. Den Fall der innerdeutschen Grenze erlebten sie in direkter Nachbarschaft. Und doch ganz anders.

Christian Dorn: Erst am Nachmittag des 10. November 1989, im Halbschlaf, vernahm ich die unwirkliche Nachricht vom Mauerfall. Ich hatte als Rekrut Nachtschicht im Küchendienst. Für uns in der Kaserne besaß das alles keine unmittelbare Bedeutung: Kurzurlaub war frühestens zum Jahresende vorgesehen, „Westreisen“ erst in 15 oder 20 Jahren – da wir als künftige „Geheimnisträger“ galten.

Anfang des Monats war ich in die Nationale Volksarmee eingerückt. Aus Angst vor Repressionen hatte ich es nicht gewagt, zu verweigern. Die Vertretung des Anwalts (und Stasi-Spitzels) Wolfgang Schnur bei der Magdeburger Kirche versicherte meinen Eltern, daß ich andernfalls mit eineinhalb Jahren im Armeeknast Schwedt zu rechnen hätte: Die Zelle sei fensterlos und nur über ein viereckiges Loch im Kriechgang zu betreten. So beginnt der Alptraum NVA ...

Christian Vollradt: Nervös rutschte ich auf meinem Platz hin und her. Es war Sonntag, der 12. November 1989, am späten Nachmittag. Unser Schulorchester gab die musikalische Umrahmung für irgendeine städtische Veranstaltung. Ich spielte zweite Trompete, das hieß in erster Linie: zählen. Viele Takte Pause, dann der Einsatz, ein paar Noten spielen – und wieder Pause, zählen. Ausgerechnet jetzt.

In der Nacht vom 9. auf den 10. war in Berlin die Mauer gefallen. Seitdem interessierte uns hier in Wolfenbüttel, ganz im Osten Niedersachsens nur eins: Wann gibt es endlich auch bei uns die Grenzöffnung?

Den ganzen Sommer über hatte uns die Massenflucht von DDR-Bürgern über Ungarn und die Tschechoslowakei schon in Atem gehalten. Es wurden immer mehr, schier unglaubliche Zahlen. In einigen Kasernen der Umgebung wurde Platz für Übersiedler geschaffen. Und nach den Ferien hatten wir zwei neue Klassenkameraden – „weggemacht“ aus Sachsen.

Dorn: Ende November, nach der Vereidigung, kam dann doch die Erlaubnis zum „gesetzlichen“ Grenzübertritt. Wir durften über das Wochenende nach Hause. Mit meinen Eltern fuhr ich sogleich nach Elend – und so fühlte ich mich auch. Denn was bedeutete es schon, durch Braunlage zu laufen, wo ich doch am nächsten Tag wieder in die Uniform schlüpfen mußte und erneut weggesperrt sein würde – in eine Zeit, die schon längst aufgehört hatte zu existieren.

Im Sommer 1989 hatte ich an der Erweiterten Oberschule „Bertolt Brecht“ das Abitur abgelegt. Dort in der Aula hing in großen Lettern ein Spruch der heiligen Johanna der Schlachthöfe: „Sorgt doch, daß ihr, die Welt verlassend, nicht nur gut wart, sondern verlaßt eine gute Welt.“ Doch Chicago, der Schauplatz dieses Dramas, war für uns genauso weit entfernt wie der Mond.

Einige Mitschüler hatten im letzten Schuljahr eine Wandzeitung über das Sterben der Halberstädter Altstadt angefertigt. Die Stasi war gekommen, hatte hingesehen – und nicht gesiegt. Später schon, da wurde S. aus unserer Klasse verhaftet. Er war auf dem Stadtfest zusammen mit anderen Punks von der Polizei provoziert und mit Gummiknüppeln traktiert worden. Für seinen daraufhin geäußerten Nazi-Vergleich wanderte er für mehrere Wochen ins Gefängnis. Aus seinem verballhornten „Solidaritätslied“ (Eisler/Brecht) war plötzlich Ernst geworden. Und unsere Solidarität? Trotz erfolgreich abgelegter Prüfungen war S. zur Strafe das Abitur aberkannt worden. Einen Tag vor der Zeugnisübergabe erschien dann unsere gesamte Klasse, um der Inszenierung vor Gericht beizuwohnen. Hereingeführt wurden die Angeklagten mit geschorenen Köpfen und in Handschellen, als seien sie Schwerverbrecher. Der schnoddrige, erniedrigende Tonfall des Richters – machte das Strafmaß einen prinzipiellen Unterschied zum Volksgerichtshof? Die einzige, die diese Ohnmacht durchbrach, war eine Mitschülerin, die zum Gang stürzte und dem Angeklagten einen flüchtigen Kuß auf die Wange drückte, als er wieder herausgeführt wurde. Unter Schock hatte unsere Klasse den Gerichtssaal verlassen. Stumm hatten wir noch beieinandergestanden – um doch wortlos auseinanderzugehen. Den Satz Friedrich Schorlemmers vom Gefängnis als dem „einzig moralisch vertretbare(n) Platz in der DDR“ kannte ich nicht – er drückt sehr genau aus, wofür ich damals keine Worte fand. Doch das lag nicht an den Worten. Es war der fehlende Mut. Die Selbstzensur. Die Angst.

Mitte September fuhr ich nach Budapest, aus dem Zug heraus wurden Leute an der Grenze zur Tschechoslowakei verhaftet. Tage später besuche ich das Flüchtlingslager des Malteser Hilfsdienstes in Budapest. Ich entscheide mich, nicht in den Westen zu fahren. Außerdem will ich „zurück in die Geschichte“. Selbst eine „chinesische Lösung“, glaube ich, wird den Prozeß nicht mehr aufhalten können – im Gegenteil. Als der letzte Bus vorgefahren ist und alle Flüchtlinge eingestiegen, stehe ich plötzlich allein auf dem Rasenhügel. Von unten am Bus wird dreimal zu mir heraufgerufen, ob ich nicht einsteigen wolle. Schließlich entschuldige ich mich mit einer Lüge: „Ich warte noch auf jemanden.“

Nach meiner Rückkehr notiere ich in mein Tagebuch (zu dem Bier, das ich aus Budapest mitgebracht habe): „Der nächste Schritt zur Wiedervereinigung der Deutschen: Ich bringe beide „Holsten“-Flaschen, wenn sie leer sind, zur Flaschenannahme“

Währenddessen sind in Halberstadt am 19. September 1989 die ersten Unterschriften für das Neue Forum geleistet worden, darunter auch von meiner Mutter. Einen Tag später teilt das Ministerium des Innern mit, daß das Neue Forum gegen die Verfassung der DDR gerichtet und eine „staatsfeindliche Plattform“ sei. Aus Angst vor Festnahmen und Hausdurchsuchungen werden die Unterschriften verbrannt. Daß es Pläne für Internierungslager geben soll, ist bereits seit dem Frühsommer durchgesickert. – Ab 26. September gab es eine erneute Unterschriftensammlung für die Zulassung des Neuen Forums.

Zum ersten „Gebet für unser Land“ am 4. Oktober kommen 800 Menschen in die Martinikirche, dem letzten Wahrzeichen des seit April 1945 zerstörten Halberstädter Stadtzentrums. Die Zeiger der Martini-Turmuhr waren im Feuersturm des 8. April 1945 auf 11.28 Uhr stehengeblieben. Seither wird die Martinikirche, in der der erste reformatorische Gottesdienst Halberstadts gehalten wurde, nicht mehr für den kirchlichen Betrieb genutzt. Der Künstler Johann-Peter Hinz, Kristallisationsfigur des Widerstands, macht sie – nach der Sommerausstellung „Du sollst nicht töten“ – nun zum Hort der Revolution.

Nachdem der Aufruf des Neuen Forums vorgelesen wurde, ergeht an die Anwesenden eine Frage: „Ihr habt es gehört: Ist es staatsfeindlich?“ Fast im Chor ertönt ein überwältigendes „Nein!“. An diesem Abend (und an den folgenden) scheint es mir, als würde ich an einem messianischen Moment teilhaben. Daß dieses Gefühl „nur“ einem totalitären Staat geschuldet ist, bildet dabei die andere Seite der Medaille.

Kritisch wird es eine Woche darauf, am 11. Oktober. Der Rat des Kreises von Halberstadt droht unverhohlen mit Gewalt: „Wir werden unser Volkseigentum zu schützen wissen, und wenn auch nur eine Scheibe kaputtgeht“, so die Ankündigung, würden die bewaffneten Organe einschreiten. Diese bestehen aus Truppen der Bereitschaftspolizei und Kampfgruppen, die sich hinter dem „Haus der Dienste“ verschanzt haben. Viertausend Menschen drängen sich diesmal in die Kirche. Erstmals werden Fragen nach der nötigen Organisationsform des Neuen Forums gestellt: Nur Fragen, keine Antworten.

Am 18. Oktober, es ist das dritte „Gebet für unser Land“, tritt Generalsekretär Erich Honecker zurück. Für mich ist der Prozeß schon so selbstverständlich, daß ich – statt in die Kirche – zu einer Ausstellungseröffnung gehe.

Kurz darauf kommt es in Halberstadt – im Anschluß an das Gebet – zur ersten Demonstration. Auf den Transparenten wird unter anderem die Zulassung des Neuen Forums, Zugang zu den Medien, Pressefreiheit und Abschaffung der Zensur sowie Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit gefordert. Ich selbst bin zu diesem Zeitpunkt in Berlin auf einer Demonstration, die am Palast der Republik vorbeiführt. Vor dessen Eingang werden einzelne Genossen „zum letzten Gefecht“ hinausgeschickt, die die Demonstranten in Diskussionen verwickeln sollen. Vergeblich.

Vollradt: Gerüchte machten die Runde, aber noch hatte sich nichts getan. Am Freitag und Sonnabend waren einzelne Mutige auf eigene Faust ins vermeintliche Niemandsland zwischen den Warnhinweisen „Halt! Hier Grenze“ und dem Zaun auf DDR-Seite vorgedrungen; mancher schwenkte eine weiße Fahne. Zur Sicherheit. Am Samstagnachmittag war ein Mann direkt auf die hinter dem Zaun postierten Grenzer zugegangen. „Begeben Sie sich bitte auf bundesdeutsches Gebiet zurück, Sie bringen sich in Gefahr!“ Der Anruf über Lautsprecher kam aus dem Westen – von Beamten des Bundesgrenzschutzes, die das Geschehen mit Sorge betrachteten; umstehende Bürger dagegen applaudierten. Während der BGS also vor „ungesetzlichem Grenzübertritt“ eindringlich warnte, fragten die DDR-Grenzer den eigenmächtigen Westbesucher nur: „Warum kommen die anderen nicht auch noch her, wir tun euch nichts mehr.“ Nichts mehr.

Dorn: Am 1. November treten der 1. Sekretär der SED-Kreisleitung und der Vorsitzende des Rates des Kreises zurück. Am selben Tag gibt es ein weiteres „Gebet für unser Land“. Die sich hieran anschließende Demonstration zählt diesmal 10.000 Teilnehmer – ich befinde mich zu dieser Zeit irgendwo im Norden der Republik auf einem LKW der NVA. Zu den Forderungen der Demonstranten an diesem Abend gehört auch jene nach einem zivilen Ersatzdienst.

Im kurze Zeit später erscheinenden ersten Informationsblatt des Neuen Forums Halberstadt steht: „Nicht mehr ausreisen – hierbleiben“. Die dritte Demonstration durch das Stadtzentrum Halberstadts fordert unter anderem Reisefreiheit.

Vollradt: Am Sonntag war es dann soweit. Fünf Minuten nach Mitternacht hatten Pioniere der DDR-Grenztruppen sowie zivile Bauarbeiter begonnen, mit Baggern einen Erdwall abzutragen und einen Graben mit Schotter zuzuschütten. Westlich des Zauns begannen die Bewohner mehrerer Dörfer, die das Geschehen beobachteten, ein improvisiertes Volksfest mit Lagerfeuer und Blasmusik. Punkt 7.58 Uhr wurden dann die schweren Eisentore geöffnet, und der erste Trabi kam über den provisorischen Fahrdamm gehoppelt – frenetisch bejubelt von den Wartenden im Westen. Seitdem riß der Strom der DDR-Bürger aus dem angrenzenden Landkreis Halberstadt, die den neuen Grenzübergang passierten, nicht mehr ab.

Während also gut zehn Kilometer entfernt Geschichte geschrieben wurde, versauerten wir hier bei einer „Mucke“... Dabei war es längst verabredet: Unmittelbar nach dem Schlußakkord wollten wir uns aufs Rad schwingen und nach Mattierzoll fahren, jenem Dörfchen, in dem nun die „kleine Wiedervereinigung“ gefeiert wurde. Wegen der fortgeschrittenen Zeit und in Anbetracht der Tatsache, daß am Montag wieder Schule war, nahmen wir allerdings das Angebot eines Vaters an, uns mit dem Auto hinzufahren. Ein Fehler, wie sich bald zeigen sollte. Zur Grenze mit ihrem neuen Übergang schafften wir es nicht einmal ansatzweise. In beiden Richtungen – Ost wie West – stauten sich an diesem Abend die Fahrzeuge auf der Bundesstraße 79, es gab kein Durchkommen. Stattdessen ein wildes Hupkonzert, man trommelte auf Autodächer und lag sich mit wildfremden Menschen in den Armen. Ausnahmezustand im Zonenrand, der in dieser Nacht aufhörte, es zu sein.

Unsere kleine Stadt war wie ausgewechselt, alles sah anders aus, hörte sich anders an, roch anders. Eine unglaubliche Hochstimmung griff um sich, spontane Hilfsbereitschaft überall.

Den Unterricht unterbrach eine Durchsage des Direktors: „Alle Schüler ab Jahrgangsstufe 11 werden gebeten, sich bei der Stadtverwaltung zu melden: Es werden freiwillige Helfer zur Auszahlung des Begrüßungsgeldes benötigt. Dafür gibt es schulfrei.“ Verdammt, genau ein Jahr zu jung ...

Der Irrwitz in dieser Zeit war, daß man den neu geschaffenen Grenzübergang zunächst nur von Ost nach West nutzen konnte, nicht umgekehrt. Zum ersten Mal hatten also die DDR-Bürger in punkto Reisefreiheit uns Bundesbürgern gegenüber einen Vorsprung. Denn wer in den benachbarten Landkreis Halberstadt wollte, für den galten die alten bürokratischen Hürden: Visum des „Kleinen Grenzverkehrs“ und 25 Mark Zwangsumtausch. Zu allem Überfluß hatte ich noch nicht mal einen gültigen Reisepaß. Also hieß es: Schlangestehen im Rathaus, wo sich die Anträge für ein provisorisches Reisedokument stapelten.

Einer meiner ersten Ausflüge in die post-revolutionäre DDR zur Jahreswende 1989/90 war dann schon mit einem politischen Ziel verbunden. Gemeinsam mit drei anderen Mitgliedern der Jungen Union ging es in einem alten Golf nach Halberstadt. Irgendwie hatte man Kontakt zu einer örtlichen Gruppe der Christlich-Demokratischen Jugend aufgenommen, die sich gerade als Nachwuchsorganisation der Ost-CDU gegründet hatte und diese alte Blockflöten-Truppe auf einen neuen Kurs bringen wollte. Das sollte vom Westen aus unterstützt werden, und so packten wir unter anderem einen großen Stapel Kopierpapier mit ein, um so die Produktion von Flugblättern zu erleichtern. Kurz vor der Grenze wurde unser Fahrer etwas einsilbig und gestand schließlich, daß die Weiterfahrt ungewiß sei. Er habe Einreiseverbot in die DDR, da er dort als „Grenzprovokateur“ aktenkundig sei. Gemeinsam mit anderen patriotischen Heißspornen hatte er in der Vergangenheit seinem Unmut über die gewaltsame Teilung Deutschlands auch nonverbal Luft gemacht, also Steine, Flaschen und wohl auch brennendes Material in Richtung des Zauns geschleudert. Derlei Umtriebe seien von den Genossen „drüben“ registriert und schon einmal entsprechend sanktioniert worden, teilte er uns mit. Seine Befürchtung erwies sich als unbegründet, wir durften ungehindert passieren.

Dorn: Am 15 . November reime ich ein Gedicht, das ich im Flur unserer Kaserne aufhänge – tatsächlich hängt es auch noch am nächsten Tag dort:

Die Grenzsoldaten / Früher wohlberaten / Auf den Flüchtling schießend / Nun Applaus genießend / Als die Lernenden / Von damals unter Schüssen / Jetzt unter Stempelgüssen / Sich Entfernenden. // Noch haben massenhaft sie Munition / Die Engel warten heimlich schon / Daß damit in die Mauer neue Gassen / Geschossen werden für die Massen.

Foto: Asbach im Eichsfeld 1984 ..., ... und im Jahre 2006, Die Junkerkuppe bei Bad Sooden-Allendorf (Hessen) im Jahr 1984 ..., ... und im Jahr 2009  

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