© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/09 06. November 2009

Stille Triumphe über die DDR
Geglückte Fluchtversuche: Wie sich Willy Schreiber und Ernst Weinel dem kommunistischen Regime entzogen
Hinrich Rohbohm

Von seinem Wohnzimmerfenster aus hat Ernst Weinel einen atemberaubenden Blick. „Bei guter Sicht kann man den Pfälzer Wald sehen“, sagt der 71 Jahre alte ehemalige Ingenieur, während er eine Flasche Weißwein auf den Tisch stellt. Seine Blumen auf dem Balkon blühen dieses Jahr besonders schön, erzählt er. Knallrot leuchten sie wie zum Trotz in das trübgraue Herbstwetter.

Rot. Das ist nicht die Farbe von Ernst Weinel, wenn es um zeitgeschichtliche Ereignisse geht. Die Farbe des Weißweines paßt besser zu dem gelernten Schreiner. Wie seine Blumen dem Herbstwetter trotzte er dem trübgrauen Alltag einer politisch rotgefärbten Diktatur – drüben, im Osten, in der damaligen DDR. 1970 hatte er sie verlassen, war in die Bundesrepublik geflohen. Er war an der rumänisch-jugoslawischen Grenze über die Donau in die Freiheit geschwommen. Das ist lange her. Genau wie die zehrenden Jahre danach, in denen seine Familie getrennt lebte: fünf Geschwister in West-, vier und die Eltern in Mitteldeutschland.

Ernst Weinel schaut von seinem Balkonfenster nach Westen. Seine Wohnung liegt keine drei Kilometer entfernt von der Heimat Helmut Kohls, des Kanzlers der Einheit. Es ist auch seine Einheit: die Wiedervereinigung seiner Familie.

Weinel blickt zurück, nach Osten. Seine Erinnerungen an die Zeit des Kalten Krieges, die Verhältnisse im DDR-Unrechtsstaat sowie seine Schilderungen, wie ein Großteil seiner Familie den Fängen des Regimes entkam, sind so atemberaubend wie die Aussicht vom Wohnzimmerfenster.

Der Sohn eines Professors wird 1938 in Jena geboren. Mit 14 Jahren gerät er erstmals in Konflikt mit dem Unrechtsstaat – weil er Mitglied in der evangelischen Jungen Gemeinde war, „einer aus SED-Sicht imperialistischen Tarnorganisation“, erklärt er. Im Mai 1953 verkündet sein Klassenlehrer, daß Mitglieder der Jungen Gemeinde nicht länger die Oberschule besuchen dürften.

Damals habe er Glück gehabt, verrät Weinel: Glück, daß sich in den Ostblock-Ländern nach dem Tod Josef Stalins und dem Volksaufstand in der DDR vom 17. Juni 1953 der politische Kurs der SED änderte. Die kommunistische Diktatur blieb. Aber auch Ernst Weinel blieb, der Verweis von der Oberschule war kein Thema mehr. Er erlebt, wie SED-Mitglieder bei Stellenbesetzungen bevorzugt werden, wie Leistung der politischen Gesinnung zum Opfer fällt. Weinels Familie wird zunehmend von einem Gedanken ergriffen: Flucht – raus aus dem Unrechtsstaat, rein in ein neues Leben im Westen.

Weinel hat sieben Brüder, zwei Schwestern. Sein ein Jahr älterer Bruder Hans faßt als Erster den Entschluß, es zu tun. Er hat gehört, daß im Winter die Fluchtmöglichkeit an der bulgarisch-griechischen Grenze günstig sei. Er scheitert, wird festgenommen. Nach einem halben Jahr Stasi-Untersuchungshaft in Dresden wird er im Juni 1968 zu dreieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt, ein Jahr später von der Bundesrepublik freigekauft. Im gleichen Jahr gelingt auch seiner jüngeren Schwester Kathrin die Flucht. An der rumänisch-jugoslawischen Grenze schwimmt sie durch die Donau.

„Von da an habe ich nur noch versucht, rauszukommen“, erinnert sich Ernst Weinel. Doch nachdem der Fluchtversuch seines Bruders aufgeflogen und seine Schwester entkommen ist, bekommt Weinel Ausreiseverbot. Erneut ist das Glück auf seiner Seite. „Die Stasi hatte es versäumt, mein Auslandsreiseverbot nach meinem Umzug von Dresden nach Gera an die dortige Bezirksverwaltung weiterzuleiten“, verrät Weinel. Gemeinsam mit seinen Brüdern Fritz und Olaf gelingt auch ihm die Flucht über den Fluß.

Die Geflohenen reisen auf getrennten Wegen in die rumänische Hauptstadt Bukarest, von dort über Craiova an die Donau. Nachts, im Schutz der Dunkelheit schwimmt die Gruppe über den Strom. Keine Wachen. Auf der anderen Seite wartet Hans Weinel mit einem Pkw. Es geht durch Jugoslawien, in Richtung italienische Grenze, die sie am 13. Juni 1970 passieren. „Das war unser später und stiller Triumph über die DDR“, sagt Weinel rückblickend.

Dann geht alles schnell. Einwöchige Unterbringung im Bundesnotaufnahmelager, ehe Weinel eine Anstellung als Ingenieur bei BASF in Ludwigshafen erhält. Fünf der neun Geschwister haben es jetzt in den Westen geschafft, vier sind weiter dem DDR-Regime ausgesetzt.

Ernst Weinel wird als C-Flüchtling von der Bundesrepublik anerkannt, was ihm ermöglicht, regelmäßig die DDR zu besuchen. Er trifft sich mit seinen Geschwistern, bastelt an Fluchtplänen. Zu seinen Eltern nach Jena darf er nicht.

Die nächste Flucht eines der im Osten gebliebenen Brüder über die Donau scheitert zunächst. Die Reisegenehmigung wird verweigert – ein Glücksfall. Denn die grüne Grenze über die Donau wird bereits stark bewacht, ein unbemerktes Durchschwimmen ist unmöglich. „Da hatte einer gequatscht“, ist sich Weinel sicher. In einem Lkw mit doppelter Wand gelingt dem Mediziner schließlich doch die Flucht. „Er hatte sich mit Dieselöl übergossen, damit ihn die Hunde nicht wittern“, beschreibt Weinel die dramatische Aktion, die bei seinem Bruder nachwirkt: „Er kann bis heute den Geruch von Diesel nicht vertragen.“

Um so größer ist die Freude, als am 9. November 1989 die Mauer fällt. „Ich konnte es kaum glauben, dieses Jahr werde ich nie vergessen“, sagt Weinel. Seine Familie ist wieder vereint. „Und auf unserer letzten großen Familienfeier waren wir 52 Leute“, freut sich er sich seines ganz persönlichen Sieges über das SED-Regime.

Doch Familienschicksale in einer kommunistischen Diktatur können anders enden – tragischer. Schockierend. Willy Hieronymus Schreiber, Jahrgang 1937, gehört zur gleichen Generation wie Ernst Weinel. In Halle geboren, arbeitet er als selbständiger Schausteller und Eisdielenbesitzer. Durch seine Arbeit kommt er zu Wohlstand. Er heiratet 1963, vier Jahre später kommt seine Tochter Kathrin zur Welt. Schreibers Welt ist in Ordnung.

Zwei Jahre später stürzt sie ein. Die Ärzte diagnostizieren bei seiner erst 25 Jahre alten Frau Darmkrebs. Sie stirbt. Wenige Wochen darauf sterben seine Mutter und Großmutter. „Nur die Sorge um meine Tochter hat mich am Leben gehalten“, sagt er.

Als er 1971 erneut heiratet, ahnt er noch nicht, daß seine zweite Frau im Auftrag der Stasi als „IM Astrid“ arbeitet. Das Paar bekommt einen Sohn, Alexander. Sie ist auf sein Geld aus, hat eine Affäre mit dem Stasi-„IM Wolf“, einem Werkstattbesitzer. Und Schreiber lernt 1978 den Italiener Angelo Sarto kennen. „Wir hatten uns sehr gut verstanden, ich hatte keine Ahnung, um wen es sich handelt“, erzählt Schreiber.

Sarto, ein damals 46 Jahre alter Repräsentant der italienischen Kommunisten, ist Verbindungsmann seiner Partei zur DDR. Er macht Geschäfte: im IHZ, dem Internationalen Handelszentrum von Ost-Berlin. Dort ist er Leiter des Büros der „Rest-Ital“, einer Tarnfirma der Italienischen Kommunistischen Partei (IKP), die für die DDR Embargo-Geschäfte betreibt. Illegal, versteht sich. Und streng geheim. „Er deutete mir gegenüber einmal an, daß er Träger eines großen Geheimnisses sei, über das er nicht reden könne“, sagt Schreiber, der damals das Beziehungsgeflecht Sartos noch nicht durchschaute. Vielleicht waren es nur diese vagen Andeutungen, die ihn in ein Agentenspiel geraten ließen, in das er nie hineingehörte.

Der wegen seiner Unternehmer-Tätigkeit ohnehin ins Visier der Stasi geratene Schreiber wird zum Politikum. Hat ihm Sarto etwas anvertraut? beginnt sich die Stasi zu fragen. Und seine Frau nutzt den Kontakt ihres Mannes, um ihn zu denunzieren. Es könnte das Drehbuch zu einem Politkrimi sein. Doch die Ereignisse um Schreiber sind nicht aus Seemannsgarn ersponnen. Sie sind auf Dutzenden Seiten von Stasi-Akten dokumentiert, die Schreiber nach der Wende einsehen konnte.

Die Denunzierungen bringen ihn in die Bredouille, es kommt zu offenen Verfolgungen gegen ihn. Er entschließt sich zur Flucht. Eine Hauptrolle spielt ein Rechtsanwalt, der im Scheidungsverfahren gegen Schreiber „IM Astrid“ vertritt und auch für „IM Wolf“ tätig ist. Er teilt der Stasi mit, daß Schreiber die DDR illegal verlassen will. Laut Unterlagen der Birthler-Behörde handelt es sich bei dem Anwalt um den ehemaligen DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maiziére (CDU).

Als Schreiber 1981 erfährt, daß er verhaftet werden soll, handelt er schnell. Er bittet seinen Freund Sarto um Hilfe. Der bringt Schreiber und seine damals 14 Jahre alte Tochter im Kofferraum seines Fiats über die Grenze nach West-Berlin. Schreiber gelingt es zudem, auch seinen Sohn in den Westen zu schleusen. Dadurch wird er endgültig zu einer Belastung des Ost-West-Verhältnisses. Zwei seiner Freunde werden als Fluchthelfer eingesperrt. Schreiber selber ist auch in West-Berlin nicht sicher. Der Befehl der Stasi: „Liquidierung auf frischer Tat.“ Schreiber flüchtet um die ganze Welt: nach München, nach Österreich, über Italien in die USA. Schließlich versteckt er sich auf der Südseeinsel Tahiti.

Sein Sohn muß auf Drängen der Anwälte und seiner Mutter zurück in die DDR. Nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs gelingt ihm über die Prager Botschaft erneut die Flucht.

Schreibers Leidensweg hingegen ist mit dem Fall der Mauer nicht zu Ende. Noch im Dezember 1989 wird der Haft- und Fahndungsbefehl gegen ihn bis zum Jahr 2014 verlängert. 1994 schießt „IM Wolf“ seinen Sohn Alexander nieder, als der ihn wegen seiner Stasi-Vergangenheit zur Rede stellen will. Alexander überlebt schwer verletzt.

Stichwort: „Im Visier – Chronik einer Flucht“

In seinem Buch „Im Visier – Chronik einer Flucht“ beschreibt Willy Hieronymus Schreiber, wie er lange Zeit nicht wußte, warum ihn die Stasi nach dem Leben trachtete. Erst nach Einsicht seiner Akte bei der Gauck-Behörde erfuhr er die Wahrheit. Auf 330 Seiten schildert Schreiber seine Leidenszeit und seine Flucht vor dem DDR-Regime. Die um zahlreiche neu aufgetauchte Akten, persönliche Briefe und Abbildungen ergänzte gebundene Neuausgabe seines Buches sowie ein Dokumentenband sind jetzt im TVR Medienverlag erschienen. (Jena 2009, Paperback, 335 Seiten, Abb., 19,90 Euro)

Foto: Stopp am DDR-Kontrollpunkt (Spielszene „Goodbye DDR“): Die Flucht im Kofferraum war ein Vabanquespiel – kommt man durch oder nicht?

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