© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/09 06. November 2009

Zukunftsweisender Schwanengesang
Konservative Revolution und klassische Moderne: Das Vermächtnis des im Mai verstorbenen Philosophen Manfred Riedel
Harald Seubert

Kurz vor seinem Tod im Mai dieses Jahres konnte der Philosoph Manfred Riedel (1936–2009) ein letztes Buchmanuskript abschließen, das als Vermächtnis betrachtet werden kann. Den Ausgangspunkt markiert Riedels – nur allzu berechtigte – Besorgnis, der Faden der Überlieferung könne abreißen. Mit Hofmannsthal diagnostiziert er, alles höhere, schönere Leben sei zutiefst erkrankt. Von hier her erinnert Riedel an den inneren Zusammenhang deutschen und europäischen Geistes.

Zunächst rückt er Goethe ins Zentrum. Riedel legt von der „Italienischen Reise“ her den Zusammenhang von Hellas und Hesperien, Antike und Abendland offen und befragt zugleich vor der Brechung von Stefan Georges Gedicht „Goethes letzte Nacht in Italien“ die spannungsreichen Fügungen zwischen Goethe und Hölderlin. Dabei wird auch die spezifische Affinität der Deutschen zur griechischen Antike erörtert, die aus dem Mangel entstanden war, nicht in einer unmittelbaren Verbindung mit der lateinischen Kultur zu stehen. Doch gerade diese Empathie ließ klassische deutsche Kunst und Philosophie in europäische Weite gelangen und war vor allem für die romanische Welt Faszinosum.

In einem zweiten Teil entwickelt Riedel um den Brennpunkt Nietzsche die Bogenlinien der klassischen Moderne: Er sieht Nietzsche einerseits in enger Verbindung zur Weimarer Klassik. Nietzsches Credo, daß das Dasein nur ästhetisch gerechtfertigt werden kann, findet andererseits in der Romania seine Resonanzen, namentlich im Kreis um Baudelaire. Kreisbildung und pädagogische Provinzen kommt in den Beschleunigungen und Selbstzerstörungen der Moderne zentrales Gewicht zu.

Im dritten Teil, Höhepunkt der Studie, interpretiert Riedel den Zusammenhang zwischen Georges „Dichterstaat“ und seiner Stiftung in der Kunst. Nicht ornamental, wie mitunter behauptet, sondern architektonisch ist Georges Dichtung. Dies zeigt Riedel, indem er eine Intuition von Gadamer aufnimmt. Georges früh selbst eingestandene geradezu erotomane „Sucht zum Schönen“ wird dadurch gleichermaßen besänftigt und in eine dauerhafte Gestalt gebracht. Daß der ästhetische Staat, der durch die Dichtungsarchitektur gestiftet wird, unabdingbar ist, wenn man sich dem Kern der modernen Humanitätskrise, dem Gemeinwerden der Herzen und der Verhäßlichung der Welt entgegenzusetzen sucht, zeigt Riedel jenseits aller gängigen Entzauberungen und „Entmythologisierung“ von George und seinem Kreis als deren bleibendes Vermächtnis.

Im vierten Teil zielt Riedel auf ein tieferes Verständnis der Idee Konservativer Revolution, die er als europäische Idee zu begreifen lehrt. Er zeigt, wie sie bei Hofmannsthal aus der Zwiesprache mit Nietzsche und Goethe hervorging und den Schillerschen Gedanken „ästhetischer Erziehung“ als Antidotum zu den Sozialbeglückungsträumen der Moderne zum Leuchten brachte.

Eindrücklich wird sichtbar, daß die Konservative Revolution nie nur ein politischer Gedanke sein kann, daß sie auf den „guten Europäer“ vorausverweist und zugleich zurückblickt in vornationalistische Überlieferungen des Heiligen Römischen Reiches, aus denen das „Geheime Deutschland“ und Stauffenbergs Widerstandshaltung lebte. Damit vertieft Riedels letztes Buch sein 2006 erschienenes Werk über Stefan George und die Brüder Stauffenberg (JF 12/07). Riedel schuf mit dieser Studie ein bedeutendes Gegengewicht zu den konstruktivistisch leichtfertigen, ideologiekritisch verdächtigenden Annäherungen. Er beschwört nicht nur den Zusammenhang von Ethos und schönerem Leben in der Kunst als tieferen Grund der Vernunft. Sein Buch ist selbst ein Beitrag zu diesem höheren Leben – im Wissen, daß nichts von den Traditionslinien, um die es geht, mehr selbstverständlich ist.

Unübersehbar ist der Zusammenhang von Religion und Kunst ein untergründiger Leitfaden: Er ist der „Doppelaspekt“, unter dem Riedel die klassische Moderne sieht. Er begegnet damit zugleich dem – Hegelschen – Vorwurf, eine jede „Kunstreligion“ sei Vergangenheitsgestalt des Geistes und eigentlich der Antike, nicht der Moderne zugänglich. Die Frage nach der Manifestation des Göttlichen im Menschen ist für Riedel der Punkt, an dem die Gewinnung klassischer Form in der modernen Welt zur Entscheidung steht, in einer Zeit, in der (nach Riedels Überzeugung) sowohl die klassische Erste Philosophie wie die Moral ihre Bindekraft verloren haben.

Manfred Riedel sagte mir vor langen Jahren unter dem Eindruck von Heideggers Zarathustra-Aufsatz: „So müßte man schreiben können.“ Er hat in seinem letzten Buch dieses Ideal noch übertroffen. Es ist daher der Schwanengesang des vielleicht bedeutendsten hermeneutischen Philosophen unserer Zeit, von Sorge und Melancholie durchstimmt, aber letztlich von der tiefen Bejahung, die aus dem Schönen kommt. Riedel schreibt den leichten, human weltläufigen und doch tief ernsten Stil der Goethezeit fort, den er aber durch das Nadelöhr der Erschütterungen des 20. Jahrhunderts durchfädelt. Ich kenne nichts Vergleichbares. „Alles Edle ist selten“ (Heraklit).

In einem konservativen Kanon für das 21. Jahrhundert müßte, wenn es recht zugeht, Manfred Riedels letztes Buch einen herausgehobenen Platz einnehmen. Der Philosoph setzte am Ende seines Weges ausdrücklich auf eine neue Generation, die „den längst fälligen Revisionsprozeß anstrengen und das hohe Geistergespräch vor Herabziehungen ‘ins Nichts’ bewahren wird“.

Die von Ulrich Raulff (JF 43/09) jüngst mit viel narrativem Aplomb vertretene Auffassung, 1968 sei Georges Vermächtnis letztendlich verglüht und damit als rein historische Angelegenheit zu betrachten, erfährt hier den überfälligen Einspruch. Nachgeborene werden erstaunt und bewundernd erkennen können, wie abseits der verwechselbaren, eitlen „kulturwissenschaftlichen“ Massen- und Cluster-Produktion des frühen 21. Jahrhunderts in weitgehender Einsamkeit, nur aus dem Gespräch mit der Tradition und einigen wenigen Freunden, solche Einsichten Gestalt finden konnten.

Manfred Riedel: Im Zwiegespräch mit Nietzsche und Goethe. Weimarische Klassik und klassische Moderne. Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2009, gebunden, 250 Seiten, 69 Euro

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