© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/09 06. November 2009

Der Westen geniert sich
Scham und Wut zweier Schwestern: Warum die Deutschen nur schwer zueinander finden
Harald Harzheim

Drei Jahre nach dem Mauerfall drehte der mitteldeutsche Regisseur Herwig Kipping das filmische Poem „Novalis – Die blaue Blume“: die Biographie eines Dichters, der mit seiner „blauen Blume“ das Sehnsuchtssymbol der Romantik schuf. Dieses aber existiert nur als Vision, kann mehr geahnt als geschaut werden. Kipping schuf einen Bilderbogen über den Frühverstorbenen, den platonische Liebe an die unerreichbare Sophie von Kühn band: ein Leben in Träumen also. Und doch, wenige Jahre vor der Entstehung des Films wurde ein unerreichbarer Traum wider Erwarten wahr. Plötzlich schien die blaue Blume greifbar, war Sophie von Kühn nicht nur via Briefverkehr zu kontaktieren. Die Sehnsüchte von Ost und West fanden zusammen, wurden Realität. – Wirklich?

Bereits in „Novalis“ kollidieren Traum und politische Wirklichkeit: In einer Szene erklärt Friedrich II., der deutsche Schicksalsweg sei ungewiß, und ein Offizier stellt nach der Französischen Revolution fest: „Die Revolution ist beendet. Das Volk hat verloren.“ Sätze, deren Aktualitätsbezug kaum zu überhören war. Aber was war geschehen? Weshalb bereits diese frühe Skepsis? Hatte man nicht allen Grund, neugierig aufeinander zu sein – nach Jahrzehnten der Trennung? Statt dessen vertrocknete die blaue Blume schnell, auch Sophie von Kühn starb bekanntlich schon als 15jährige, also viel zu früh.

Daß der Traum in der Realität nicht bestand, daß die Gegensätze Ost und West sich nicht lösten, daß es nicht zur Einheit in den Köpfen kam – das belegen schon die endlosen Feuilleton-Beschwörungen eines „gesamtdeutschen Romans“. Was der Alltag nicht schafft, soll die Fiktion vorleben. Regelmäßig ruft man Kandidaten aus – Ingo Schulzes „Neue Leben“ oder Uwe Tellkamps „Der Turm“ – und läßt sie wieder fallen. Es scheint ihn einfach nicht zu geben.

Geht man nochmal zwei Jahrzehnte zurück, dann fällt auf: Kaum ein europäischer Intellektueller gab der (kulturellen) Einheit eine Chance! Nicht nur der deutschen, auch der europäischen. Ost- und Westeuropa? Unvereinbar. Ein Zyniker wie Jean Baudrillard resümierte: „Die verschiedenen Kulturen, von sich selbst eingenommen, nähern sich einander niemals an, höchstens mit der Behäbigkeit geologischer Platten.“

Nicht minder resigniert konstatierte Laszlo Földenyi: „Ein Dialog zwischen Ost und West scheint ziemlich aussichtslos. Dabei gehören beide zu einem Kontinent, und sie tragen denselben Familiennamen (Europa). Und dennoch, nach der Geburt gestaltete sich ihr Schicksal grundverschieden. Mich erinnern sie an zwei Schwestern: an die Justine und die Juliette des Marquis de Sade. Sie erlebten das gleiche: eine Vielzahl von Enttäuschungen, Demütigungen, Qualen und Gewalttätigkeiten. Trotzdem endet Juliette als Fürstin des Lebens, während Justine immer tiefer stürzt – sie könnte höchstens Dienstmagd sein. Ein diametral entgegengesetzter Ausgang. Doch die Geschichte beider ähnelt sich – keine von ihnen ist wahrhaft glücklich –, und die Wurzeln sind gemeinsam.“ (1993)

Inzwischen dürfte klar sein: Nicht allein unterschiedliche Entkulturation hat das Ausbleiben von Einheit bedingt. Viel schlimmer – beide, Osten wie Westen, haben in diesen Jahren ihre Identität verloren. Den Mitteldeutschen verschwand nach der Wende ihr gewohnter Lebensstil. Vom Design bis zu den Arbeitsmarktstrukturen – man wurde weitgehend verwestlicht. Das Eigene galt rückwirkend als wertlos, der seelischen Struktur verlangte man enorme Umstellung ab.

Auf der anderen Seite geriet der Westen durch den Zusammenbruch des Sozialismus in eine neue Weltordnung: in eine globale Revolution der Finanzmärkte, inklusive Ansteigung von Arbeitslosigkeit und Löchern im Staatshaushalt. Ein Absinken sozialer Temperaturen kündigte sich an – und erreichte ein Jahrzehnt später den Gefrierpunkt. So zerbrach auch das alte BRD-Selbstverständnis.

Wieviel Scham wird der Westen dabei empfunden haben! Jahrzehntelanges Vorbild, aber kaum ist der Kalte Krieg gewonnen, bröckelt der eigene Wohlstand, zerfällt das Vorbildhafte. Wer hätte das gedacht: Juliette genierte sich (heimlich) vor Justine. Der Westen sah in das enttäuschte Gesicht des Ostens. So entstandene Scham verwandelte sich in Ärger und Wut auf den – aus Enttäuschung ebenfalls wütenden – Konvertiten.

Ein Beispiel für diese Scham-Wut ist (ausgerechnet) der im tiefsten Westen geborene Allroundkünstler Christoph Schlingensief: Als zahlreiche Mitteldeutsche gegen Hartz IV demonstrierten, verglich er sie mit unreifen Kindern, die über Taschengeldkürzung klagen – jener Schlingensief, der einst mit Arbeitslosen das Kaufhaus des Westens stürmte ...

So verloren Ost und West ihre Identität – und wurden beziehungsunfähig. Da es auf nationalem Sektor keine Paar-Therapie gibt, wird die „verlorene ’89er Generation“ es kaum noch schaffen. Sie muß diese Aufgabe den Nachkommen überlassen – einer Jugend, die nach Wende und Enttäuschung aufwuchs. Daß die es schaffen könnte, dafür spricht die jüngste Umfrage im Auftrag der Welt am Sonntag. Demnach fühlen sich 80 Prozent der 14- bis 19jährigen als Gesamtdeutsche. Im Vergleich: Bei den 50- bis 59jährigen seien es nur 35 Prozent.

Geprägt wird die heutige Jugend aus Ost und West durch gemeinsame Probleme, durch Wirtschafts- und Umweltkrise. Man teilt die gleichen Ängste, muß an gesamtdeutscher und europäischer Lösung arbeiten. Es mag zynisch klingen, aber die „Generation Wirtschaftskrise“ ist durch beidseitigen Bankrott zur Solidarität prädestiniert.

Dafür spricht auch, daß die Artikulation kultureller Gräben – in „Novalis“ einst bitterer Ernst – meist nur noch in Komödien à la „Barfuß bis zum Hals“ (2009) gelingt: als Klischee, über das sich lachen läßt. Ob diese Tendenzen aber wirklich tief vordringen oder nur die Oberfläche erreichen, entkrampfen oder lediglich provisorische Ruhe produzieren? Darüber entscheiden die kommenden (Krisen-)Jahre.

Foto: Junges Liebespaar: Hatte man nicht allen Grund in Ost und West, neugierig aufeinander zu sein – nach Jahrzehnten der Trennung?

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