© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/09 06. November 2009

Wir 89er
Als die Mauer fiel
von Dieter Stein

Es war der Tag, an dem sich alles für uns änderte. So dunkel der November nördlich der Alpen auch ist, jener Tag sollte der lichteste Tag werden für das deutsche Volk, das für eine Ewigkeit verurteilt schien, aufgespalten in zwei Staaten, gewaltsam voneinander getrennt zu leben: der 9. November 1989.

Ein 167 Kilometer langes Bauwerk aus Beton machte den Westteil der heutigen Hauptstadt Berlin zu einer Insel in der sozialistischen Diktatur DDR. Eine 1.378 Kilometer lange und 500 Meter tiefe Sperrzone mit übermannshohem Stahlzaun und Todesstreifen trennte nicht nur die Deutschen, sondern zwei feindlich sich auf deutschem Boden gegenüberstehende waffenstarrende Militärbündnisse: die von den USA geführte westliche Nato und den von der Sowjetunion beherrschten Warschauer Pakt. Über 1.000 Deutsche, die den Versuch unternahmen, Mauer oder Sperranlagen zu überwinden, verbluteten im Stacheldraht oder starben im Kugelhagel – so wie zuletzt der 20jährige Chris Gueffroy, der am 6. Februar 1989 in Berlin von zehn Kugeln durchsiebt wurde.

Die Mauer schien Symbol eines Urteils der Geschichte über uns, eines Urteils infolge des moralischen Bankrotts, den Deutschland unter der nationalsozialistischen Diktatur erlitten hat. Die Teilung wurde gedeutet als zu tragende Strafe für die Schuld, die die Deutschen im Dritten Reich kollektiv auf sich geladen hätten.

Die Zweistaatlichkeit, die brutale Trennung eines Volkes, wird am Ende in der Bundesrepublik von der tonangebenden politischen Klasse als segensreich gedeutet. So etwa der „konservative“ Historiker Michael Stürmer, dessen Mantra die Warnung vor den angeblichen „Versuchungen eines deutschen Sonderwegs“ war, womit er schlicht die Einheit der deutschen Nation als Europa gefährdendes Ziel verwarf.

Die Deutschen als „von der Geschichte widerlegtes Volk“ (Otto Westphal)? Angesichts der Zäsur von 1933/45 hat man beiderseits des Eisernen Vorhangs versucht, eine neue, von nationaler Kontinuität losgelöste Identität, neue Geschichtsbilder zu konstruieren. In der DDR mündete dies über den Mythos des Antifaschismus in die Proklamation einer sozialistischen Nation „DDR“. Als das nicht ausreichte, bemühte sich in den achtziger Jahren Honecker, von Luther bis Bismarck plötzlich eine positive deutsche Geschichtstradition zu reklamieren. Das hatte Gründe: In Umfragen gaben bis zuletzt die Deutschen in Ost wie West unverdrossen zu 80 Prozent dem innigen Wunsch nach Wiedervereinigung Ausdruck.

In Westdeutschland wurde über das Faktum des Untergangs des Dritten Reiches hinaus das Jahr 1945 seit den siebziger Jahren zum Endpunkt der deutschen Geschichte stilisiert. Von Habermas bis Kohl sah man das „Ende der Nationalstaaten“ gekommen und die postnationale BRD als Prototyp einer neuen Ära. Man sah das „ruhelose Reich“ (Stürmer) glücklich überwunden, flüchtete sich in multikulturelle Phantasien. Westdeutschland hatte es sich im weltpolitischen Windschatten des Eisernen Vorhangs regelrecht bequem gemacht. Die Last der Teilung trugen die Mitteldeutschen in der DDR. Die CDU war im Sommer 1989 unter Generalsekretär Heiner Geißler so weit, das Ziel der Wiedervereinigung aus dem Grundsatzprogramm zu streichen. Helmut Kohl hatte Debatten über eine aktive Deutschlandpolitik verhindert, bis die historische Stunde ihn zwang, „Kanzler der Einheit“ zu werden.

Insofern überrollten die historischen Ereignisse des Herbstes 1989 nicht nur eine sklerotische kommunistische Führung in der DDR, sondern auch die westdeutsche politische Klasse, die sich von der Nation längst verabschiedet hatte und auf die Wiedervereinigung nicht vorbereitet war.

Die Einheit erkämpft haben die heldenmütigen Deutschen in der DDR, die sich ein Herz faßten und immer zahlreicher auf die Straße gingen in einem Staat, der 200.000 Mitarbeiter eines „Staatssicherheitsdienstes“ zählte, um seine Bürger von der Selbstbestimmung abzuhalten. Wie in einem Crescendo wuchs der Mut: Den Anfang machten Flüchtlinge, die in wachsender Zahl über die löchriger werdende Grenze des „Eisernen Vorhangs“ in Ungarn flohen. Der Strom der Flüchtlinge schwoll immer mehr an. Bei den Montagsdemonstrationen in Leipzig wurde der Ruf „Wir sind das Volk“ geboren, aus dem sich 1990 „Wir sind ein Volk“ formte. Diese Deutschen erzwangen den Mauerfall und die Einheit.

Die Wucht der Ereignisse, die Tapferkeit der Menschen, die Glückseligkeit sind es, die uns ungebrochen mitreißen: Das Wunder des 9. November 1989 ist, daß an diesem Tag nicht Blut floß, sondern die Tränen von Millionen Landsleuten, die sich als Wildfremde und plötzlich Vertraute an den Grenzübergängen spontan in die Arme schlossen und immer und immer wieder „Wahnsinn“ stammeln mußten angesichts einer tonnenschweren Last, die in Form der Mauer nicht nur physisch vor ihren Augen zusammengebrochen, sondern sich auch von den Seelen von 80 Millionen Deutschen gewälzt hatte.

Die Ereignisse seit 1989 zeigen, daß nationale Zugehörigkeit nicht zu ersetzen ist durch postnationale „Werte“. Was aber ist eine Nation? „Eine Nation ist eine große Gemeinschaft, begründet im Gefühl der Opfer, die man gebracht hat, und derjenigen, die man noch zu bringen bereit ist; sie setzt eine gemeinsame Geschichte voraus; (...) die allgemeine Zustimmung, den deutlich ausgedrückten Wunsch, das gemeinsame Leben fortzusetzen.“ (Ernest Renan) Der 9. November 1989 ist der glücklichste Tag der deutschen Geschichte.

Deutschland ist seitdem enger zusammengewachsen. Atemberaubende Aufbauleistungen wurden vollbracht. Die Wunden der Nation schließen sich symbolisch im Wiederaufbau der Frauenkirche oder der kommenden Wiedererrichtung des Berliner Stadtschlosses.

Seit 20 Jahren ist Deutschland als Subjekt in die Geschichte zurückgekehrt. Heute ergreift eine Generation Studium und Beruf, die die Teilung aus eigenem Erleben nicht mehr kennt. Die Trennung, sie überlebt in Erinnerung oder Nostalgie der Eltern. In der neuen Generation liegt die Hoffnung des jungen Deutschland. Sie schreiben die deutsche Geschichte fort. Es ist ihre Aufgabe, an einer Regeneration mitzuwirken und die vernachlässigten Fundamente der Nation zu erneuern.

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