© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/09 30. Oktober 2009

Ganzheitlichkeit im Mittelalter
Weder Alphamädchen noch Kräutertante: Hildegard von Bingen in zwei beachtenswerten Biographien
Ellen Kositza

Erst vor knapp zwanzig Jahren wurde Hildegard von Bingen (1098–1179) für die Nachwelt wiederentdeckt. Dieser Nachruhm ist kein theologischer, sondern maximal ein „spiritueller“. Eine Hauptrolle spielen dabei ihre heilkundlichen Schriften. Daß Hildegards historisches Wirken mitnichten auf Kräuterküche und populärer „Klostermedizin“ basierte, hatte zuletzt der diesen Herbst laufende Kinofilm unter Regie Margarete von Trottas gezeigt (JF 40/09).

Eine umfängliche Lebensbeschreibung der heiligmäßigen, doch nie heiliggesprochenen Prophetin hat Barbara Beuys verfaßt. Beuys, Historikern und langgediente Journalistin (Stern, Merian und Die Zeit), ist eine begnadete Biographin, unter anderem hatte sie bereits den Großen Kurfürst und die Droste-Hülshoff porträtiert. Ihr Hildegard-Buch, erstmals 2001 veröffentlicht, ist nun nach zwei Verlagswechseln bei Insel erschienen, zugleich mit einer weiteren, schmalen Hildegard-Biographie. Ebenfalls der Insel-Verlag hat ausgewählte Schriften der Äbtissin in einer Übersetzung und mit einer Einführung von 1922 neu aufgelegt. Man liest’s staunend und, mit dem Wissen der Nachgeborenen, auch belustigt: allein diese umfassende Sexualkunde, nach männlichen und weiblichen Temperamenten unterteilt! Soviel Wagemut in den Formulierungen, soviel Weisheit! Aber auch: klare naturwissenschaftliche Irrtümer und Mutmaßungen, die wir heute als Aberglauben erkennen.

Weil eine himmelhochjauchzende Würdigung aus der radikalfeministischen Emma die Titelei der Beuys-Biographie beherrscht, möchte man skeptisch werden: Ein Bild der Äbtissin als Frontfrau und listiges Alphamädchen mag ja leicht hinzuwerfen sein, man möchte sich solche Verzeichnungen aber doch ersparen. Doch weit gefehlt! Beuys unterbreitet uns noch mal farbenprächtig und klug den „Herbst des Mittelalters“ (Johan Huizinga) und hat dabei alle verfügbaren Quellen redlich beackert. Man liest Stunde um Stunde und mag das Buch kaum aus der Hand legen. Demonstriert wird, wie eng Hildegards Ausnahmestellung als Frau mit den Entwicklungen ihrer Epoche verbunden ist. Beuys weist darauf hin, daß sich das Marienbild bereits radikal verändert habe, seit die Führungsschicht der germanischen Völker missioniert wurde. Aus der niederen Magd war die edle Gestalt aus königlichem Geblüt geworden, „die standesgemäß den Sohn Gottes, den Herrscher des Himmels und der Erden, zur Welt bringen konnte“. Und nun, im hohen Mittelalter, eine Frau, die im hellwachen Zustand Visionen direkt von Gott empfängt, diese unter dem Titel „Scivias“ niederschreibt und weit und breit auf offene Ohren stößt.

Das verbriefte Wissen über Hildegard, die ungelehrte Seherin, Komponistin und Heilkundige, die im (für damalige Maßstäbe) biblischen Alter von 53 ihr erstes Schriftwerk vollendete, ist lückenhaft. Zudem hat die Geistliche, die nicht dem einfachen Volk, sondern auch weltlichen Größen wie Kaiser Friedrich Barbarossa als Ratgeberin diente, ihre Korrespondenz nachträglich manipuliert. Ein abenteuerliches Unterfangen, dieses Dickicht aus Nichtwissen, Verschweigen und Fälschungen zu durchdringen. Wie hat man sich die Rekluse vorzustellen, in der Hildegard viele Jahre ihres jungen Lebens verbrachte? Hielt sie sich tatsächlich in einem eingemauerten Zimmer auf? Warum wird die Frauengemeinschaft im Benediktinerkloster Disibodenberg, der sie als zehnte Tochter aus adeliger Familie zugeführt wurde, in den Annalen der Abtei vollständig verschwiegen? Wie war ihr Alltag organisiert – durften die Nonnen am Gebet der Mönche, an Prozessionen teilnehmen, wurde sie aus der Klosterküche bewirtschaftet? Wie konnte Hildegard das Wagnis eingehen, in Bedrängnis ausgerechnet (ihren künftigen Fürsprecher) Bernhard von Clairvaux anzuschreiben, den maßgeblichen Geistlichen ihrer Zeit, der zwar „mit seinen Predigten Menschen zu Tränen rühren“ vermochte, aber doch Frauen mehr als skeptisch gegenüber stand?

Wo die Quellen schweigen, nähert sich Beuys anhand von Indizien, und sie tut es so spannend und nachvollziehbar, wie man es sich von einem populärwissenschaftlichen Werk nicht besser wünschen kann. Hildegrad ersteht vor dem Leser als konservative Revolutionärin schlechthin. Sie stellte sich gegen die neuen, von körperfeindlicher Askese und daseinsvergessener Frömmigkeit motivierten Reformbewegungen, wie sie von Cluny ausstrahlten. Für Hildegard verdiente die Pflege des Körpers (als Sitz der Seele) Beachtung, das Auftreten ihrer Mitschwestern ohne Schleier und mit offenem Haar verteidigte sie – als Vorrecht der Jungfräulichkeit.

Auch die prächtige Kleidung ihrer Klosterschwestern zu Festtagen weiß sie gegen Anwürfe zu rechtfertigen: Funkele nicht der Tugenden höchste Krone, nämlich die Demut, „vom reichen Schmuck der kostbarsten Edelsteine und weißen Perlen“? Trügen nicht die Tugenden „seidene Gewänder“? Hingegen lehnt sie die weißen Kutten der reformorientierten Mönche strikt ab. Gott offenbarte ihr, so schreibt sie es in „Scivias“ auf, daß allein das schwarze Gewand geeignet sei, von Menschwerdung und Grablegung Christi Zeugnis zu geben. In den frommen Neuerern sieht sie eitlen Zeitgeist am Werk. Auch hat sich die Äbtissin gegen Vorwürfe zu erwehren, daß sie nur adelige Töchter in ihrer Gemeinschaft dulde. Steht dem nicht das Ideal der Gleichheit in den Evangelien gegenüber? Hildegard beruft sich demgegenüber auf die von Gott gegebene Ständeordnung und die himmlische Hierarchie. Welcher Mensch sammele „seine ganze Herde in einem einzigen Stall, nämlich Ochsen, Esel, Schafe, Böcke, ohne daß sie aneinander geraten?“

Es fiele so leicht, Kennzeichen der Gottessuche, der Gottesnähe unter Klassifikationsschemata der modernen Psychiatrie einzuordnen. Aus rational-medizinischer Sicht könnte man bei Hildegards Lehrerin Jutta von Sponheim Anzeichen für Anorexia nervosa finden, man hätte Gründe, eine frühe, ausgeprägte Form des heute unter jungen Frauen häufig auftretenden sogenannten autoaggressiven „Selbstverstümmelnden Verhalten“ (SVV) zu diagnostizieren, man könnte in Hildegards Visionen psychotische Züge wähnen. Unter dem Kampfruf der Entmythisierung wäre all dies ein Leichtes. Jedoch: So akribisch Beuys allen inneren und äußeren Zusammenhängen von Hildegrads Wirken auf der Spur ist – diesem Götzendienst verweigert sie sich unausgesprochen.

Nicht, daß Beuys ihre Leser mit ihren Ausschweifungen je übersättigte. Allein: Es ist ein viele Abende füllendes Vergnügen, die 360 klein und dicht bedruckten Seiten zu absolvieren. Knapper faßt sich Christine Büchner, die mit ihrer Lebensgeschichte Hildegards das offizielle „Buch zum Film“ vorgelegt hat. Während Beuys’ souveräne, deutungsmächtige Darstellung den Leser mit Wucht hineinzieht in die mittelalterliche Welt, holt Büchner ihre Leser im Heute ab und verläßt ebendiesen Bezugspunkt nie ganz.

Die junge Wissenschaftlerin, deren Doktorarbeit über den Mystiker Meister Eckart mit dem Karl-Rahner-Preis ausgezeichnet wurde, nähert sich der Benediktinerin einfühlsam und setzt Schwerpunkte, die bei aller Opulenz des Beuyschen Werks dort untergingen. Ohne vollends ins Fach esoterischer Halbwissenschaft abzuwandern, legt sie dar, inwiefern der heute teils abgedroschene Begriff der „Ganzheitlichkeit“ für Hildegard einen Leitwert darstellte. Seele, Körper und Geist seien eins, analog zur göttlichen Dreieinigkeit. Ebenso seien bei Hildegard, dieser ersten Frau, die sich anmaßte, die Bibel auszulegen, Moralität und Ästhetik miteinander verknüpft. Antrieb für alles ist die viriditas, jene „Grünkraft“, die allem zugrunde liege, was aus Gottes Geist und durch göttlichen Segen entsteht.

Das leitet über zu den ungezählten Koch- und Therapiebüchern à la Hildegard – die bei aller Trivialität schließlich auch nicht zu verachten sind.

Barbara Beuys: Denn ich bin krank vor Liebe. Das Leben der Hildegard von Bingen. Insel Taschenbuch, Frankfurt am Main 2009, broschiert, 376 Seiten, 12,90 Euro

Christine Büchner: Hildegard von Bingen. Eine Lebensgeschichte. Insel Taschenbuch, Frankfurt am Main 2009, broschiert, 144 Seiten, Abbildungen, 7,50 Euro

Hildegard von Bingen: Wisse die Wege. Ratschläge fürs Leben. Ausgewählt und übersetzt von Johannes Bühler. Insel Taschenbuch, Frankfurt am Main 2008, gebunden, 297 Seiten, 9,90 Euro

Fotos: Szene aus „Vision – Aus dem Leben der Hildegard von Bingen“ (2009): Konservative Revolutionärin, Hildegard von Bingen empfängt eine göttliche Inspiration: Soviel Weisheit

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