© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/09 23. Oktober 2009

Ohne Selbstausbeuter kein freier Markt
JF-Debatte: Warum konsequenter Wirtschaftsliberalismus seinen eigenen Freiheitsbegriff unterspült
Harald Harzheim

Zahlreiche zum Teil empörte Kommentare hat ein Internetblog unseres Autors Harald Harzheim auf www.jungefreiheit.de hervorgerufen, der am 6. Oktober unter dem Titel „Liebesakt mit Dynamit“ den Sozialstaat gegen Zumutungen der Marktwirtschaft mit dem Argument verteidigte, die freie Marktwirtschaft sei ein egalisierender Totalitarismus, während der Sozialstaat das Recht auf Unterscheidung gewährleiste, die Freiheit des Individuums garantiere und eine Existenz ermögliche, die Wertvorstellungen außerhalb des Marktes setzt. Weil Meinungsbildung von der Kontroverse lebt, befeuern wir die Debatte hier mit einem neuen Beitrag von Harald Harzheim. In der nächsten JF-Ausgabe antwortet ihm der Wirtschaftsliberale Bernd-Thomas Ramb. (tha)

Freiheit des Marktes inklusive ‘Selbstverantwortung’ des Einzelnen“ fordern die Wirtschaftsliberalen. „Befreiung des Einzelnen vom universellen Zugriff des Marktes“ verlangen jene, die wirtschaftliches Handeln begrenzen möchten, sei es durch Sozialstaat oder bedingungsloses Grundeinkommen. Dabei wissen sie, daß der Markt in unbeschränkter Form – so wie alles Unbegrenzte – im Totalitarismus endet, daß sein Freiheitsbegriff auf keiner Ebene haltbar ist.

Vielmehr erzwingt der Wirtschaftsliberalismus erstens eine radikale Angleichung des Individuums an die Marktbedingung, angestachelt durch Angst vor ungeschütztem Absturz. Zweitens ist er nicht in der Lage, die Komplexität gesellschaftlich notwendiger Arbeit in ein adäquates Lohnssystem zu übersetzen. Und drittens ist „Selbstverantwortung“ inmitten enthemmter Wirtschaft nur wenigen möglich.

Gelderwerb wird zum Mittelpunkt der Existenz

Der Reihe nach. Erstens: Zur liberalen Wirtschaft gehört die maximale Eliminierung von Steuern und damit auch des Sozialnetzes. Eine solche „Wirtschaft ohne Netz“ aber schürt Angst vor dem Fall in totale Armut. Das Resultat: Die restlose Zentrierung der Marktinteressen im Leben des Einzelnen. Der Gelderwerb wird zum Mittel- und Schwerpunkt der Existenz. Denken, Empfinden, Verhaltensregelung, Auswahl an Freundschaften orientieren sich primär an seinem Bedarf. Und damit auch – an seinem Kommando! So greift er – ganz totalitäre Ideologie – nach dem gesamten Menschen. Dynamisch, fit-flexibel, „sozial kompetent“, durchsetzungsfähig – aus diesen Flicken besteht der liberale Einzelkämpfer, der „Monetarier“.

Wessen Persönlichkeitsschwerpunkt anderswo liegt, der muß sich aufspalten (wenn er kann), in den Folterkellern der Selbstoptimierung verbiegen lassen, bezahlt mit Burn out-Syndrom oder Depressionen und landet zuletzt im Prekariat. Totaler Markt impliziert die Diktatur eines Typus: des homo economicus. Es ist das „Recht auf Verschiedenheit“ (Alain de Benoist), das der ungebremsten Wirtschaft als erstes zum Opfer fällt.

Zweitens: In wirtschaftlicher Wertsetzung steht der Profit an oberster Stelle, das heißt, eine Tätigkeit wird nach ihrem Marktwert beurteilt. Ein Produzent überflüssigster Ramschwaren oder enthemmte Umweltplünderer besitzen demnach höheren Stellenwert als Individuen, die auf sozialer oder kultureller Ebene ihren – gering- oder unbezahlten – Einsatz leisten. Mag deren Nutzen oft „nur“ ein indirekter sein, trotzdem können selbst ignoranteste Monetarier darauf nicht (restlos) verzichten.

Man braucht keineswegs den Ausnahmefall vom darbenden Dichter zu bemühen, dessen Werke post mortem zum Stolz der „Kulturnation“ mutieren. Es reicht der Verweis auf Geisteswissenschaften insgesamt, um zu belegen, daß zahlreiche Kulturerzeugnisse nicht nach Regeln des freien Marktes entstehen. Sie bedürfen subventionierter Nischen, finanziert durch Steuergelder. Dies um so mehr, als man allerorts nach einer „Wissensgesellschaft“ schreit. Oder geniert sich niemand bei der Vorstellung, daß ein beachtlicher Teil der Kultur durch prekäre Selbstausbeutung entsteht?

Ein weiterer, indirekter Wirtschaftsnutzen profitloser Kultur zeigt sich am Beispiel der Stadt Berlin: Millionen Touristen lassen hier Geld in Gastronomie, Kaufhäusern und Freizeitangeboten. Was sie herlockt? Ein wichtiger Grund ist Berlins Image als Kultur-Szene-Stadt. Damit wird in Werbeprospekten geprahlt, damit schaufelt man Millionen – und drängt die Macher zum Dank an die städtische Peripherie: um Platz zu schaffen für geistlose Investitionsobjekte (wie die unsägliche O2-World), die im gesamten Umfeld die Lebenskosten hochtreiben.

Nein, die freie Wirtschaft verfügt über kein ausreichend differentes Entlohnungssystem, das der Komplexität gesellschaftlichen Zusammenwirkens, der Vielfältigkeit der menschlichen Existenz gerecht würde. Sämtliche „New Work“-Utopien à la Matthias Horx, Josef Scheppach & Co. warten seit über zehn Jahren auf Realisation. Auch Sascha Lobos „Digitale Boheme“ schafft keine neue Arbeitswelt, statt dessen Minijobs zu Niedriglöhnen. Indes benennt der liberale Ökonom Ian Angell freimütig das „Endziel“: eine flexible Monetarier-Elite hier, rechtlose, verarmte Massen da.

Der Bedarf an Arbeitskräften sinkt

Drittens: Die Eliminierung sozialer Absicherung erhöht den Konformitätsdruck. Anderssein als der Monetarier-Typus wird mit Elend und Ausgrenzung bestraft. Wenn dem nichts entgegensteht, erhält ein Bruchteil der Menschheit nahezu unbegrenzte Macht. Dann lassen sich Angestellte zu Lohnsklaven degradieren, sich mit 5 bis 7 Euro pro Stunde abspeisen, bei steigender Leistungserwartung. Das geht so weit, daß ein Berliner Kinounternehmen für den Job des Kartenabreißers ein Casting veranstaltete. Mit Rollenspielen – ein Bewerber agierte als Kinobesucher, der andere als Abreißer – testete man etwa 70 Anwärter stundenlang auf ihre „Sozialkompetenz“: für einen 7-Euro-Job!

Die größte Paradoxie ist aber, das mit gedrückten Löhnen die sogenannte „Selbstverantwortung“ unmöglich wird – der Stolz und Freiheitsbegriff der Wirtschaftsliberalen. Ihr aber wird mit Billiglohn der Boden entzogen. Erst ab 1.300 Euro pro Monat lassen sich Miete, Alltagsbedarf, Versicherungen komplett „selbstverantwortlich“ tragen. So unterspült der „freie Markt“ seinen eigenen Freiheitsbegriff. Die Zahlungsmoral der Unternehmen durch Steuerentlastung anfeuern zu wollen, ist mehr als naiv: Wer Gewinnmaximierung intendiert, wird jede Möglichkeit dazu nutzen. Schließlich entlassen Unternehmen ihre Arbeiter auch bei steigenden Einnahmen.

Hinzu kommt, daß durch veränderte Produktionsbedingungen der Bedarf an Arbeitskräften sinkt, also langfristig ein „Ende der Arbeit“ (Jeremy Rifkin) droht. Die geringen Vermittlungserfolge der „Jobcenter“ gründen nicht (nur) in deren Unfähigkeit: Es gibt in vielen Bereichen kaum oder keine Vakanzen. Man darf in Zukunft also getrost eine Verschärfung des Arbeitskampfes erwarten, mit noch schlechteren Konditionen.

Unterstellt man den Menschen eine Fixierung auf Eigennutz, läßt sich dann zweifeln, daß zunehmende Privatisierung – die zugleich Machtzuwachs impliziert – zur „freien“ Plünderung von Umwelt und Abhängigen führt? Welch Wahnsinn, das Wohl der Mitmenschen ausschließlich der Spendenfreudigkeit Einzelner auszuliefern. Wenn Peter Sloterdijk, der als Universitätsprofessor übrigens von Steuergeldern lebt, dieselben gegen großzügiges „Schenken“ austauschen möchte, stellt sich die Frage: Was passiert, wenn die Großzügigkeit ausbleibt?

Totalitäre Strukturen ähneln sich in Ausreden

Nehmen wir als Beispiel die USA: Dort ist die freiwillige Krankenversicherung für viele Bürger unbezahlbar. Wem aber das Geld zur Versicherung fehlt, der kann auch aufwendige Behandlungen nicht finanzieren. Zum Glück gibt es Ärzte, denen das Leid der Mitmenschen nicht egal ist. Sie, so zeigte kürzlich eine Fernseh-Dokumentation, behandeln zahlungsunfähige Patienten am Wochenende gratis – abwechselnd, im freiwilligen Schichtdienst. So führt das liberale Gesundheitssystem zur Selbstausbeutung jener, deren Nervenkraft zum Wegschauen nicht ausreicht. Es überläßt die Linderung sozialer Mißstände einigen „nützlichen Idioten“.

Es gibt Apologeten, die entschuldigen wirtschaftsliberale Grausamkeiten mit deren inkonsequenter Realisierung – und machen sozialstaatliche Überreste für das Versagen ihrer Ideologie verantwortlich. Deren Formel lautet: „Wirklich befreite Wirtschaft hat es bislang noch nicht gegeben“ – eine sehr alte Entschuldigung. Damals, als das Versagen sozialistischer Systeme dämmerte, hieß es: „Wirklichen Marxismus hat es ja bislang noch nicht gegeben.“ Totalitäre Strukturen ähneln sich sogar in ihren Ausreden.

Um einem Mißverständnis vorzubeugen: Es geht nicht um „Gleichheit“. Sollen die Großverdiener doch in ihren Überflußparadiesen glücklich werden. Es geht um Freiheit von Abhängigkeit und seelischer Deformation. Ob der Sozialstaat oder das bedingungslose Grundeinkommen diese Freiheit am weitesten gewährleistet, ist ein anderes Thema. Bis hierhin gilt: Das Angebot der Wirtschaft, die globale Religion des 21. Jahrhunderts zu bilden, muß dankend zurückgewiesen werden.

Adriaen Pietrsz. van de Venne, „Was tut man nicht alles für Geld!“ (Öl auf Eichenholz, 1625): „Anderssein als der Monetariertypus wird mit Elend und Ausgrenzung bestraft“

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