© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/09 23. Oktober 2009

Abschied vom Abendland
Im Westen geht die Sonne unter: Heinrich August Winkler dient bestenfalls zur Bettlektüre
Günter Zehm

Wer will denn so etwas lesen? „Die Geschichte des Westens. Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert“, Band 1, 1.199 Seiten, 38 Euro! Und schon droht der Verlag mit der Herausgabe eines zweiten Bandes, nochmal über tausend Seiten, nochmal an die vierzig Euro. Und geboten wird nichts weiter als eine oft arg verkrampfte Zusammenfassung von Geschichten, die schon abertausendmal erzählt worden sind, besser, gründlicher, sachlicher erzählt worden sind. Was soll die Oberlehrerei?

Auch der Autor des Riesenopus wirkt nicht gerade appetitmachend: Heinrich August Winkler, seines Zeichens emeritierter Professor für Neueste Geschichte an der Berliner Humboldt-Universität, bekannter Experte aus 68er Zeiten für politische Umerziehungsfragen. Sein Leben lang bezeterte er den „Sonderweg“ gegenüber dem „Westen“, den Deutschland in seiner Geschichte angeblich eingeschlagen habe, woraus dann alles Unheil des zwanzigsten Jahrhunderts entsprungen sei. Er schrieb ein (nicht ganz so dickes, aber ebenfalls zweibändiges) Buch über Deutschlands „Langen Weg nach Westen“ und beruhigte sich schließlich mit dem Gedanken, daß unser Land heute – nicht zuletzt durch Winklers Mithilfe – glücklich ebendort „angekommen“ sei.

Die jetzige „Geschichte des Westens“ liest sich streckenweise wie eine Fortsetzung des „Langen Weges“, nur daß es diesmal nicht nur um Deutschland, sondern um den Westen insgesamt geht. Winklers Bild vom Westen war und ist strikt angelsächsisch fokussiert. Als erfolgreich Umerzogener und eifriger Umerzieher glaubt er, daß die grundlegenden „Werte“ des Westens letztlich aus der britischen und amerikanischen Welt stammen und daß sie dort am besten aufgehoben sind. Da dieses Dogma aber vielerorts immer häufiger und ernsthaft mit der historischen Wirklichkeit konfrontiert und angezweifelt wird, beginnt unser Professor unruhig zu werden – und fängt an zu erzählen.

Ja, erzählt er, natürlich ist der Westen, das Abendland, viel älter als die „transatlantische Wertegemeinschaft“, der Begriff davon entstand schon in der Antike, als sich das römische Imperium in ein Ost- und ein Westreich aufteilte. Dann die Fortsetzung des Heiligen Römischen Reiches unter christlichem Vorzeichen im Mittelalter, die Auseinandersetzungen zwischen Kaiser und Papst, die Verteidigung Europas gegen Mongoleneinfälle und das Vordringen der Türken – all dies hat natürlich die Vorstellung vom „Westen“, vom „Okzident“, vom „Abendland“ tief geprägt. Doch die entscheidende Prägung, legt Winkler immer wieder nahe, sei doch erst im neuzeitlichen England und im neuen Amerika erfolgt.

Sämtliche westlichen Geistesströmungen: Scholastik, Humanismus, Protestantismus, Rationalismus, Aufklärung, moderne Naturwissenschaft – sie alle seien erst im spezifisch angelsächsischen Kulturmilieu gewissermaßen nach Hause gekommen und dauerhaft verankert worden. Deshalb sei es eine Anmaßung und fast eine Frechheit, wenn heute in der Europäischen Union dauernd von „europäischen Werten“ gesprochen werde. Es handle sich in Wahrheit um „transatlantische Werte“, das Projekt Abendland sei ein genuin transatlantisches Projekt.

Der Erzähler Winkler spart also keineswegs mit scharfer Meinungsbildung, auch nicht mit Kritik am geliebten Westen. Sklaverei, Ausrottung der Indianer, Kolonialherrschaft, unerhörte Bestialitäten und Grausamkeiten, nichts wird ausgespart, alles wird unverblümt beim Namen genannt und der moralischen Mißbilligung des Lesers ausgesetzt. Gleichzeitig wird dieser jedoch ermahnt, intensiv zu bedenken, daß die Brandmarkung unhaltbarer Zustände und ihre Revidierung stets aus den Tiefen des Westens selbst gekommen sei; eben das hebe ihn von anderen Weltgegenden ab, mache seine Einzigartigkeit und Zukunftsfähigkeit aus.

Nun, die Botschaft hört man wohl, allein, es fehlt mittlerweile bei immer mehr Zeitgenossen der Glaube. Das transatlantische Projekt liegt vor aller Augen in Trümmern, genau wie das kommunistische Projekt. Beide waren Ausgeburten abendländischer Hybris, beide entstanden als Resultat jener radikalen Säkularisierung, die Winkler kurioserweise als Mutter aller Menschlichkeit und Vernünftigkeit preist und in der er den Urgrund und das Erfolgsgeheimnis jeglicher westlicher Überlegenheit zu erkennen glaubt.

Zur selben Zeit wie Winklers Buch erschien jetzt in deutscher Übersetzung das Buch „Ein säkulares Zeitalter“ von 2007 aus der Feder des kanadischen Kulturphilosophen Charles Taylor, ebenfalls ein Wälzer von 1.200 Seiten, der die Geschichte des Westens als Geschichte der Säkularisierung erzählt und kommentiert. Es bereitet hohen Reiz, die beiden Werke miteinander zu vergleichen.

Taylor äußert sich viel weniger pausbackig als Winkler, macht die Abgründe und Risiken eines Kulturkreises deutlich, der alle Bezüge zum Heiligen und Transzendenten strikt privatisiert und aus der Sphäre des genuin Gesellschaftlichen verbannt hat. Er sieht im Gegensatz zu Winkler genau, daß von der massiven Inanspruchnahme von „Menschenrechten“ zu anmaßungsvoller menschlicher Selbstvergöttlichung nur ein winziger Schritt ist und daß eine Gemeinschaft, die diesen Minischritt übersieht oder gar bewußt ignoriert, zu Tode stürzen kann und früher oder später wohl auch zu Tode stürzen wird.

Beim kommunistischen Projekt ist die Katastrophe bereits eingetreten, beim „Westen“ in Form der transatlantischen Wertegemeinschaft bahnt sie sich gerade an. Weltfinanzkrise als Folge betrügerischer Machenschaften, Folter- und Konzentrationslagerbetrieb, Überfall auf fremde Völker im Stil alter Kolonialherrschaft – ob dergleichen, Oba­ma hin oder her, jemals von inneren Selbstheilungskräften korrigiert werden kann, steht in den Sternen. Auf jeden Fall wirkt es in horrender Weise desintegrierend. „Den“ Westen gibt es bereits jetzt nur noch in Gestalt einiger internationaler Organisationen (zum Beispiel der Nato, die sich gerade in Afghanistan definitiv blamiert) oder aber als treuherzige Bettlektüre à la Winklers „Geschichte des Westens“.

Wie schrieb Samuel Huntington, der von Winkler so hochgelobte Autor des Buches „The Clash of Civilisations“? „Der Westen gewann die Welt nicht wegen der Überlegenheit seiner Ideen oder Werte oder wegen seiner Religion, sondern einzig durch seine Überlegenheit bei der Anwendung organisierter Gewalt. Westler vergessen das oft, Nicht-Westler vergessen es nie.“ Heinrich August Winkler hatte es bei Abfassung seiner Erzählung vielleicht nicht partout vergessen, aber mit Sicherheit zuwenig ernst genommen. Das hat sich gerächt.

Heinrich August Winkler: Die Geschichte des Westens. Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert. Band 1. C.H. Beck Verlag, München 2009, gebunden, 1.199 Seiten, 38 Euro

Charles Taylor: Ein säkulares Zeitalter. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009, gebunden, 1.298 Seiten, 68 Euro

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