© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/09 16. Oktober 2009

Die beste deutsche Revolution
Klaus-Dietmar Henke hat einen interessanten Sammelband zur Geschichte der Umbrüche von 1989/90 in der DDR herausgegeben
von Werner Lehfeldt 

Im vergangenen und in diesem Jahr sind – mindestens – drei Bücher erschienen, in denen Ursachen und Verlauf der Revolution von 1989/90 in der DDR beschrieben werden: Ehrhart Neubert mit „Unsere Revolution“, Ilko-Sascha Kowalczuks „Endspiel“ und Wolfgang Schullers „Die deutsche Revolution 1989“. Zu diesen von jeweils einem Autor verfaßten Werken stellt der von Klaus-Dietmar Henke herausgegebene Sammelband „Revolution und Vereinigung 1989/90“ eine willkommene, sehr informative Ergänzung dar, die freilich ihren Wert auch in sich selbst hat.

In ihm behandeln 37 Autoren ebenso viele Einzelaspekte bzw. -ereignisse der Revolution und geben so dem Leser die Möglichkeit, seine Kenntnisse über das Geschehen zwischen Sommer 1989 und Herbst 1990 gezielt zu vertiefen. Gegliedert ist das Buch in zwei Teile. Der erste Teil gilt dem übergreifenden Thema „Krise und Aufbruch in der Deutschen Demokratischen Republik“, der zweite steht unter der Überschrift „Die Reaktion der Bundesrepublik Deutschland und der Mächte“. Vorangestellt sind diesen Teilen ein Übersichtsartikel „1989“ aus der Feder des Herausgebers sowie ein Essay: „Vor dem Sturm. Die unnormale Normalität der DDR“ von Richard Schröder.

Nach den Worten von Klaus-Dietmar Henke legt das Buch den Akzent auf den Aufbruch in der DDR und soll eine zentrale Aussage belegen: „Keine Wiedervereinigung ohne eine demokratische DDR; keine demokratische DDR ohne den ostdeutschen Volksprotest“. Gemäß dieser These sind die politischen Entscheidungen, die schließlich zur Wiedervereinigung Deutschlands führen sollten, „zuallererst als Reaktion auf die anhaltende Demonstration des Volkswillens zu verstehen“.

In zehn Punkten beschreibt Henke sodann die Voraussetzungen, die die Revolution begünstigt haben. Richard Schröder bedauert in seinem gedankenreichen Essay, daß sich der von Krenz geprägte Ausdruck „Wende“ für den Herbst 1989 durchgesetzt habe, und wendet sich gegen jegliche Ostalgie: „Die DDR-Nostalgiker wünschen sich, wie mir scheint, die Unwissenheit von damals zurück, nun aber wider besseres Wissen.“

Er wagt sich auch an ein Tabuthema, den Vergleich des Alltags in der DDR mit dem in der anderen deutschen Diktatur. „An beiden Alltagen läßt sich leider sehr viel Vergleichbares finden, wenn wir nicht 1944 mit 1988 vergleichen, sondern 1937 mit 1988. Keine Arbeitslosen, ein herrliches Urlaubsprogramm für die arbeitende Bevölkerung, Kraft durch Freude dort, FDGB-Feriendienst hier genannt“ u.a. Freilich übersieht er nicht die auch vorhandenen gravierenden Unterschiede, wie etwa: „Das NS-Regime war hausgemacht deutsch, die SED-Diktatur dagegen von der Sowjetunion installiert und ausgehalten.“

Der Inhalt der beiden Hauptteile des Buches kann hier nur durch die Wiedergabe einiger Artikelüberschriften angedeutet werden: „Die DDR-Volkswirtschaft am Ende“ (A. Steiner), „Der 9. Oktober: Tag der Entscheidung in Leipzig“ (R. Eckert), „Der Untergang der Staatspartei“ (W. Süss). „Die Bundesregierung und die Krise der DDR vor dem Mauerfall“ (H. J. Küsters), „Die SPD und die deutsche Frage 1989/90“ (M. Schmeitzner), „Die Sowjetunion und die deutsche Einheit. Warum Moskau die DDR aufgab“ (M. Lemke), „Die Kosten der Einheit. Eine Bilanz“ (G. A. Ritter).

Man liest die genannten und alle übrigen Aufsätze mit Gewinn, einige auch nicht ohne ein gewisses Amüsement. Letzteres gilt etwa für R. Engelmanns Artikel „Die Intellektuellen, die friedliche Revolution und die Debatte um die Vereinigung“. Hier kann man das Phänomen des westdeutschen Wendehalses studieren. So schrieb der Chefredakteur der Zeit, Theo Sommer, nach der Öffnung der Mauer: „In den Herzen der Deutschen läuten die Glocken. Die Nation lebt, ihr Zusammengehörigkeitsgefühl ist ungebrochen.“ Dabei hatten es die führenden Leute der Zeit, Marion Gräfin Dönhoff und ihr „Bube“ Theo Sommer, nicht lange vor dem Sichtbarwerden der Existenzkrise des DDR-Regimes für ratsam erachtet, den Deutschen zu predigen, sie sollten nicht nur den Glauben an die Möglichkeit der Wiedervereinigung aufgeben, sondern selbst den Wunsch nach der Wiedervereinigung Deutschlands. Si tacuisses ...!

Abgeschlossen wird der Band wiederum durch einen „Essay: Die ostdeutsche Revolution“ des amerikanischen Historikers Charles S. Maier, der diese Revolution in das Muster anderer gewaltfreier Umwälzungen des 20. Jahrhunderts einordnet wie etwa der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung Martin Luther Kings. Den wohl wichtigsten Grund für das Losbrechen und das Gelingen der revolutionären Bewegung sieht Maier nicht etwa in der ökonomischen und der Finanzkrise des SED-Regimes, sondern in dessen „Unfähigkeit, die neue Herausforderung des Postindustrialismus zu meistern, also die Welt des Tourismus etwa, des Stils, der Computer oder das Verlangen der Jugend nach ihrer eigenen Musik“. Eine alternde, bis zur Arroganz selbstbewußte Führung, die die Dynamik des sowjetischen Wandels unterschätzt habe, sei die größte Bedrohung für das SED-Regime gewesen.

Zusammen mit den eingangs genannten Monographien und zahlreichen anderen Arbeiten trägt der von Klaus-Dietmar Henke zusammengestellte Band ganz wesentlich dazu bei, die Kenntnisse über den Ablauf der revolutionären Ereignisse von 1989/1990, über deren tiefere Ursachen und deren Folgen zu vertiefen. „Nostalgie, ‘Ostalgie’ (...) ist fehl am Platze“, schreibt Charles S. Maier. Wer ihr dennoch anhängt, der tut dies, wie es Richard Schröder ausgeführt hat, wider besseres Wissen oder jedenfalls wider die Möglichkeit besseren Wissens, wie sie heute jedermann offensteht. 

Klaus-Dietmar Henke (Hrsg.): Revolution und Vereinigung 1989/90. Als in Deutschland die Realität die Phantasie überholte. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2009, 736 Seiten, 19,90 Euro

Foto: Über 300.000 Menschen protestieren auf dem Leipziger Ring am Montag, den 6. November 1989: Anhaltende Demonstration des Volkswillens

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