© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/09 16. Oktober 2009

Arbeit am Mythos
Jochen Böhlers allzu kühne Thesen zum Polenfeldzug 1939
von Vincent Lohmüller

 Mitte August 2009 strahlte die ARD „den Film zum Buch“ aus, das, aus der Feder des Zeithistorikers Jochen Böhler, unter dem Titel „Der Überfall“ „Deutschlands Krieg gegen Polen“ Revue passieren läßt. Irgendwann gegen Ende des Dokumentarstreifens, als die mediale Aufbereitung dieses kurzen Feldzuges durch Joseph Goebbels’ Propagandaministerium zur Sprache kam, resümiert die Stimme aus dem Off: „Das deutsche Volk war Lügen ausgesetzt.“

Nun, bei einem Blick in Böhlers Buch ist unübersehbar: da hat sich in den letzten 70 Jahren wohl nicht viel geändert. Nur die weltanschaulichen Prämissen geschichtspropagandistischer Indoktrination wechselten inzwischen natürlich. Böhler, Jahrgang 1969 und seit 2000 am Deutschen Historischen Institut  (DHI) in Warschau tätig, ergreift nochmals die gut entlohnte Gelegenheit, den Schematismus seiner Dissertation „Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939“ zu offerieren. Dieses Pamphlet, das die Bundeszentrale für politische Bildung seit 2006 sturzbachartig aufs Lesepublikum herabregnen läßt, will die dank Reemtsmas Anti-Wehrmacht-Schau mittlerweile dogmatisierte These vom „Vernichtungskrieg“, der 1941 gegen die Sowjetunion geführt worden sei, bereits dem „18-Tage-Krieg“ im September 1939 applizieren.

Herausgekommen ist eine Darstellung, die sich wie eine Auftragsarbeit für das polnische Außenministerium liest. Nicht von ungefähr bedankt sich der Verfasser eben zuerst bei jenen, die ihm halfen, seinen „Blick durch die polnische Brille zu schärfen“. Damit wäre über den historisch-wissenschaftlichen Wert auch dieser Böhler-Publikation eigentlich alles gesagt und man könnte es zum „übrigen Wegwurf“ (Rudolf Borchardt) dieses tristen Genres tun.

Allein: dem Steuer- und GEZ-Zahler ist man schon Aufklärung darüber schuldig, was er hier mitfinanziert. Nicht weniger nämlich als die geschichtspolitische Stabilisierung des Mythos von der polnischen Nation als ewigem „Opfer“ eroberungssüchtiger Nachbarn. Dem dient schon die manisch oft wiederholte Redewendung vom „Überfall“. Das suggeriert, Polen sei im Sommer 1939 arg- und wehrlos einem überraschenden Angriff ausgesetzt worden. Schwer vorstellbar bei einem säbelrasselnden Militärregime, das auf deutsche Verhandlungsangebote mit der Generalmobilmachung reagiert hatte und das sich, seit der Staatsgründung 1918 von der polnischen „Großmacht“ träumend, an Phantasien vom „Marsch nach Berlin“ berauschte. Gleichwohl meint Böhler, die polnische Armee, obwohl zahlenmäßig der deutschen in etwa ebenbürtig, sei zum hilflosen Opfer der „hochtechnisierten Wehrmacht“ geworden. Dabei sind es gerade die Militärhistoriker seiner Generation, die in den letzten Jahren die mangelhafte deutsche Rüstung und den geringen Motorisierungsgrad des Heeres betonten und dies als Beleg für Adolf Hitlers verantwortungslose Risikobereitschaft werteten.

Um die „totalisierende“, zivile Ziele nicht verschonende Form der Kriegführung zu dokumentieren, verweist Böhler wieder einmal auf die Bombardierung Wieluns am 1. September 1939. Daß sich eine polnische Division in unmittelbarer Nähe des Ortes aufhielt und deren Einheiten auch in dieser Kleinstadt zu vermuten waren, Görings Luftwaffe also primär ein militärisches Ziel anvisierte, ist ihm nur einen Nebensatz wert.

Die Bombardierung Warschaus ist für ihn ein „Terrorangriff“, dessen völkerrechtliche Zulässigkeit Böhler zwar zähneknirschend einräumt, nicht ohne diese Tatsache rasch in ein Non-liquid der Forschung umzudeuten: „Die Frage, ob die Luftangriffe vom Kriegsrecht gedeckt waren, ist gleichwohl bis heute zwischen deutschen und polnischen Militärhistorikern umstritten.“ Ebenso „umstritten“ sei übrigens auch, ob die Deutschen nicht doch selbst am „Bromberger Blutsonntag“ schuld seien, weil einige Bromberger sich als „Heckenschützen“ betätigt hätten.

Ganz und gar nicht „umstritten“ ist für Böhler, was er als Herzstück seiner „Überfall“-Mär präsentiert: die Beteiligung von Heereseinheiten an der „Vernichtung“ der polnischen und jüdischen Bevölkerung. Tatsächlich vermag er hierfür aber nur Einzelfälle aufzuzählen. Ein einheitlicher, systematischer, rassenideologisch motivierter Wille der Wehrmachtsführung, einen „Vernichtungskrieg“ nach Polen hineinzutragen, ist nirgends zu erkennen. Nicht von ungefähr vermag auch Böhler seine „Fälle“ nur als „Übergriffe“ zu klassifizieren. Zudem kommt er nicht umhin, die seine „Vernichtungs“-These arg beschädigenden aktenkundigen Proteste deutscher Kommandeure gegen die von den „Todesschwadronen“ der SS und dem volksdeutschen „Selbstschutz“ vorgenommenen Exekutionen polnischer Zivilisten zu zitieren.

Böhlers Werk ist in viele mundgerechte Häppchen eingeteilt, von denen sich eine ganze Reihe der „Entmythologisierung“ widmen. Das reicht vom „Mythos Sender Gleiwitz“, über „Kavallerie gegen Panzer“, „Bromberger Blutsonntag“, „Post von Danzig“ oder „Polnische Freischärler“. Am Ende summiert sich dies zu Böhlers „Arbeit am Mythos“ vom „Überfall“. 

 Jochen Böhler: Der Überfall. Deutschlands Krieg gegen Polen. Eichborn Verlag, Frankfurt/Main 2009, gebunden, 272 Seiten, Abbildungen, 19,95 Euro

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