© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/09 16. Oktober 2009

Fleißig das Meer gepflügt
Brutalstmöglicher Kalenderstil: Reinhard Mehrings mißlungene Carl-Schmitt-Biographie
von Günter Maschke

Aufgabe einer Biographie ist es, Leben, Werk und Wirkung einer Person erzählend zu deuten. So nötig dazu die Kenntnis der Einzelheiten ist, so unabdingbar bleibt es, das Bedeutsame herauszustellen und auf das Periphere zu verzichten oder ihm allenfalls hier und da einen bescheidenen Platz zuzuweisen, – es gibt wichtige und es gibt entbehrliche Tatsachen. Nur in der Malerei des Pointillismus mag aus zahllosen, gleichberechtigten Pünktchen ein geschlossenes, konturiertes Bild entstehen. Eine literarische Gattung wie die Biographie beruht jedoch auf einer Hierarchisierung der Fakten und hat auf vieles zu verzichten. Es kann ihr nicht darum zu tun sein, mit weitaus geringerem schriftstellerischem Talent als ein James Joyce uns einen bläßlichen, verkopften Wiedergänger des Leopold Bloom zu präsentieren.

Genau dies unternimmt Reinhard Mehring, der sich seit etwa zwanzig Jahren als oft kleinlich mäkelnder Kritiker Schmitts betätigt und dabei sowohl die erregende Atmosphäre als auch die beunruhigende, oft vieldeutige geistige Substanz von dessen Werk verfehlte. Bisher äußerte sich Mehrings Abscheu gegenüber Schmitt eher akademisch gesittet und mehltauüberwuchert – im vorliegenden Buch erreicht er zuweilen die Energie eines feindseligen Verfolgers und ernennt Schmitt zum zeitweisen „Vollnazi“. Ärgerlicher aber ist Mehrings Leidenschaft für die liliputanischsten Fakten, und das liest sich so:

„Im Juni ist er (Schmitt) in Plettenberg. Im Juli 1930 publiziert er in der Zeitschrift Abendland einen kurzen Aufsatz über ‘Die politische Lage der entmilitarisierten Rheinlande’ nach Räumung der zweiten und dritten besetzten Zone. In der Kölnischen Volkszeitung erscheint ein Artikel über ‘Die Einberufung des vertagten Reichstags’. Am 25. August stirbt der alte Hugo am Zehnhoff. Schmitt fährt zur Beerdigung nach Köln und weiter nach Plettenberg, wo ihn Georg Eisler besucht. Mitte September kehrt er nach Berlin zurück. Er gibt dann auf einem Soziologentag einen kurzen Beitrag. Bald reist er nach Breslau, wo er am 2. Oktober für einen Lehrgang ‘Staatsbürgerkunde’ einen einführenden Vortrag ‘Der Völkerbund’ hält. Schmitt vertieft dort seine Bekanntschaft mit Hans Rothfels und lernt Arnold Brecht näher kennen.“

Wir erfahren auch: „Mitte September arbeitet Schmitt an seinem Aufsatz über ‘institutionelle Garantien’. Er nimmt sein Berliner Leben wieder auf, trifft Popitz und Jünger und korrigiert am ‘Begriff des Politischen’. Am 20. September fährt er mit Werner Becker zusammen auf die Burg Lobeda in Thüringen, wo Wilhelm Stapel, Paul Althaus, Albert Mirgeler und andere Theologen des Nationalismus sind. Schmitt spricht über den ‘totalen Staat’, fährt dann weiter nach Naumburg und Halle. Anfang Oktober liefert er die Fahnen seiner Begriffsschrift ab.“

Schließlich: „Am 3. Dezember fährt Schmitt nach Bremerhaven für einen Vortrag über ‘Diktatur und Wirtschaftsstaat’, den er am nächsten Tag in Bremen wiederholt. Er besichtigt die Stadt, in der Cari nun lebt. Briefe über den ‘Begriff des Politischen’ treffen ein. Schmitt feiert seinen Schritt in die politische Publizistik wie eine Befreiung aus akademischen Manschetten. Die Liste seiner Frei- und Besprechungsexemplare, 98 Adressen, zeigt, wie sehr er damals schon in den rechtsintellektuellen Kreisen verankert ist. Neben den großen Fachzeitschriften gehen Besprechungsexemplare an …“ usw. usf. 

Der Leser mag bereits hier aufstöhnen, doch wie ergeht es ihm, wenn er sich durch Hunderte von Seiten dieser Machart quälen muß? Das ist brutalstmögliche Folterung durch schlimmsten Kalenderstil, doch immerhin könnte Mehring (und nur er) eine in Grenzen nützliche Chronologie erstellen, betitelt mit „Carl Schmitt von Tag zu Tag – 11. Juli 1888–7. April 1985“. Eine bedeutende Vorarbeit zu diesem Werk hat er schon geleistet.

Derlei rastlose tour de force will alle Details erfassen und kann gerade deshalb bei den wirklich wichtigen nicht verweilen. Wer etwa war Albert Mirgeler (1901–1979), was zeichnete das Werk dieses katholischen Historikers und „Reichstheologen“ aus, welche geistigen Beziehungen bestanden zwischen den Überlegungen Schmitts und den seinen?

Solche Fragen lassen sich Dutzende, nein, Aberdutzende Male bei Mehring stellen, der es über seinem wüsten name-dropping vergißt, die geistige Physiognomie des jeweiligen Freundes, Feindes, Kritikers, Interpreten usw. zumindest zu umreißen. Damit bleiben die Gründe für die von Schmitt ausgehende Faszination ebenso unklar wie die Analyse der Wirkung seiner Schriften, die bis heute die unterschiedlichsten Geister auf die unterschiedlichste Weise beschäftigen. Meist scheint Mehring Kenntnisse über Schmitts ausgedehnte Entourage und deren Denken vorauszusetzen.

Doch des öfteren muß man Mehring unterstellen, daß er weder das Werk noch die Bedeutung der von ihm genannten Personen kennt. Dies gilt vor allem für nichtdeutsche Freunde, Bekannte, Kritiker Schmitts. Der französische Politologe und Mitbegründer Polemologie Julien Freund (1921–1993) wird immerhin fünfmal genannt, doch Mehring weiß weder etwas Substantielleres über das anfänglich schwierige Verhältnis zwischen Schmitt und Freund (der aktiver Kämpfer der Résistance war) zu berichten, noch geht er auf den außerordentlich ergiebigen Briefwechsel der beiden Männer ein, noch weiß er, daß Freund, nicht nur aufgrund seines bekanntesten Buches „L’Essence du Politique“ (zuerst 1965), als der große Fortsetzer und Systematisierer Schmitts gelten muß.

Auch über den äußerst engen Freund und zugleich scharfen Kritiker Schmitts, den spanischen Romanisten Álvaro d’Ors (1915–2004), weiß Mehring nur das, was der mittlerweile übersetzte Briefwechsel hergibt – von Interesse ist aber doch wohl, wie sich Schmitts Ideen im Werke von D’Ors widerspiegeln und dabei auch ihre Veränderung erfahren. Überhaupt fällt die spanische Rezeption, neben der deutschen und italienischen die bedeutendste, so gut wie ganz aus dem Blickfeld Mehrings. Der italienische Jurist und Politologe Gianfranco Miglio (1918–2001), der Schmitts Werk ab 1972 mit beträchtlicher Energie propagierte und kommentierte, wird von Mehring nicht einmal erwähnt. Dabei war es Miglio, der die von Schmitt entdeckte große Teilwahrheit des Politischen, die immer sich durchsetzende „Regularität“ der Beziehung von Freund und Feind, erhellte und so aufwies, daß wir neben der konkreten Verortung Schmittscher Schriften und Argumente uns bewußt bleiben müssen, daß hier die Klassizität wie die wohl immerwährende „Aktualität“ Schmitts wurzeln. Schmitt war eben, wenn nicht der Entdecker, so der Formulierer einer grundlegenden, immer präsenten verità parziale aller Politik(en) und deshalb ein Mann vom Range Thukydides’, Hobbes’, Paretos oder Max Webers.

Durch seine umfangreichen Unkenntnisse gelingt es Mehring nicht, den Reichtum an theoretischen und intellektuellen Anregungen Schmitts zu verdeutlichen. Ob wir nun das Verhältnis von Politik und Verfassung, von Jurisprudenz und Staatsrecht, den Ausnahmezustand, die Prämie auf den legalen Machtbesitz, die vielen möglichen Beziehungen zwischen Krieg und Frieden, den gerechten Krieg, die humanitäre Intervention, einen sich apolitisch-ökonomisch drapierenden Imperialismus, die legale Revolution, die Dialektik von Humanitarismus und Bestialität, geschweige denn die Politische Theologie betrachten,– fast ein Vierteljahrhundert nach Schmitts Tod bleibt er unser vornehmster „Avancierriese“.

Mehring gelingt es aber auch kaum, die Aura und die Argumentation von Schmitts Schriften darzustellen. Von welcher Bedeutung ist für Schmitts „Verfassungslehre“ (1928) die Unterscheidung von einem politischen und einem juristischen Verfassungsteil? Weshalb sagt er nichts zu Schmitts sich ändernder Auffassung vom „Begriff des Politischen“ – 1927 hat das Politische noch einen „Bereich“, 1932 hat es keinen Bereich mehr und kann „überall“ als Intensität von Feindschaft, an „beliebige“ Inhalte andocken.

Wenn Mehring von Schmitts vielleicht bedeutendstem Werk, dem „Nomos der Erde“ (1950) spricht, erfahren wir dann wirklich etwas über die den ursprünglichen Begriffsinhalt pervertierende Wiederkehr des „gerechten Krieges“? Werden wir auch nur halbwegs unterrichtet über das Diktat von Versailles, über die betrügerische Fassade des Völkerbundes, über die Rheinlandbesetzung und den Ruhreinmarsch der Franzosen und Belgier 1923, die den politischen Denker Schmitt erst schufen? Versteht Mehring auch nur ein Minimum von Donoso Cortés und erkennt die Beweggründe Schmitts für seine beinahe abenteuerliche Umdeutung des ihn so intensiv beeinflussenden Spaniers? Klärt Mehring den Unterschied zwischen kommissarischer und souveräner Diktatur? Kennt er die Bedeutung der SD-Akte über Schmitt und versteht dessen höchst reale Gefährdung 1936? Warum ist es für Mehring kein Thema, daß Schmitt immerhin dreimal mit General Franco sprach und ihm die Schaffung einer Krone vorschlug? Denkt Mehring über die Tatsache nach, daß Schmitt oft jahrzehntelang vielen, sogar Andersdenkenden, ein treuer Freund war? Daß er, als Johannes Popitz nach dem 20. Juli 1944 verhaftet war, um später hingerichtet zu werden, ohne Abstriche zu diesem hielt und sich schon dadurch gefährdete? Kommt er auf die Idee, daß die kleine Schrift „Staat-Bewegung-Volk“ (1933) ein – wenn auch illusorischer – Versuch war, den Nationalsozialismus zu „konstitutionalisieren“ und zu „zähmen“ – was die Nationalsozialisten auch bald erkannten? Weshalb sagt er nichts zu Schmitts Ambitionen, Staatssekretär im Justizministerium zu werden (Anfang 1936), wo doch dies den angeblichen „Vollnazi“ in ein noch brauneres Licht stellen würde, als Mehring es angemessen findet?

Wir halten hier erschöpft inne: Über keine wirklich wichtige theoretische Problematik bei Schmitt, aber nicht einmal über wirklich bedeutsame Punkte seiner Biographie erfahren wir in Mehrings monströsem Schinken etwas von Belang. Immerhin verdanken wir ihm die Widerlegung der Legende Nicolaus Sombarts, daß Schmitt im Grunde ein seine latente Homosexualität durch Frauenfeindschaft und Männlichkeitskult Bekämpfender, laut Sombart jun. also ein „typisch“ deutscher Mann war. Schmitt war, so weist Mehring nach, eher ein notorischer Ehebrecher, ein Mann mit einer beeindruckenden Zahl von oft langjährig mit ihm verbundenen Geliebten, der weder vor Studentinnen noch vor Hausmädchen zurückschreckte und auch gern die Dienste professioneller Bordsteinschwalben in Anspruch nahm. Man kann es nicht leugnen: Die implizite Widerlegung der verschrobenen Thesen von Sombart jun. ist ein Verdienst, wohl das einzige Mehrings. Immerhin galten diese Thesen Sombart jun. und seinen zahlreichen Bewunderern als der Universalschlüssel zu Schmitt. Doch deshalb 750 Seiten?

P.S. Das Manuskript zu Mehrings Buch wurde immerhin von Gelehrten wie Volker Gerhardt, Herfried Münkler, Christoph Schöneberger, Wolfgang Schuller und Michael Stolleis ganz oder teilweise gelesen und für gut befunden; die Gründer des Carl-Schmitt-Fördervereins zu Plettenberg, Gerd Giesler und Ernst Hüsmert, zwei enge und langjährige Freunde Schmitts, haben Mehring jahrelang beraten und unterstützt. Was sagt uns das über die intellektuellen und universitären Zustände in Deutschland? Difficile est satiram non scribere.

Reinhard Mehring: Carl Schmitt. Aufstieg und Fall. Eine Biographie. Verlag C.H.Beck, München 2009, gebunden, 748 Seiten, 29,90 Euro

Foto: Carl Schmitt (1888–1985): Grundlegender Formulierer

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