© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/09 16. Oktober 2009

Vor dem Vergessen bewahrt
Spuren des Mauerfalls: Zwei Foto-Ausstellungen in Berlin zeigen, wie es war, als sich die Welt veränderte
Christian Dorn

Wer in Berlin nach Spuren des Mauerfalls von 1989 sucht, findet sie derzeit vor allem in zwei bemerkenswerten Fotoausstellungen, die nur fußläufig voneinander entfernt sind. Der Weg zwischen beiden Orten verläuft – eine Ironie der Geschichte – exakt auf der einstigen Demarkationslinie, die hier vor zwanzig Jahren noch das sichtbarste Symbol des Eisernen Vorhangs zwischen Ost und West bildete.

Am Brandenburger Tor zeigt die gleichnamige Stiftung im Max-Liebermann-Haus die Exposition „Szenen und Spuren eines Falls. Die Berliner Mauer im Fokus der Photographen“. Die 140 Aufnahmen von 21 renommierten Lichtbildnern – darunter Barbara Klemm, Sibylle Bergemann, Thierry Buignet, Werner Mahler, Norbert Enker, Thomas Ernsting, Gilles Peress und Harald Hauswald, dem mit über dreißig auf ihn angesetzten MfS-Spitzeln am stärksten überwachten Fotografen der DDR – zeigen in verdichteter Weise den Wendepunkt der Geschichte.

Stellvertretend hierfür stehen etwa zwei Aufnahmen von Hauswald: Während im Jahr 1982 einige Menschen vor einer Absperrung in Richtung Westen auf das noch weit entfernte Brandenburger Tor schauen – tatsächlich gucken sie eher weg –, zeigt die Aufnahme vom 22. Dezember 1989 plötzlich, wie Menschenmassen auf das Tor zustürmen.

So verkörpert dasselbe Motiv einmal den statischen Moment einer bleiernen Zeit und einmal die Dynamik der Geschichte, durch welche die einst unüberwindbare Grenze nur noch als eine surreale Kulisse erscheint. Ähnlich symbolträchtig ist auch das Foto von Karsten De Riese von dem Mann, der mit einer Holzleiter über die Mauer klettert.

Unter dem sinnfälligen Titel „Sekunden, die Geschichte wurden“ zeigt im Martin-Gropius-Bau Harald Schmitt, langjähriger Bildreporter des Stern,  seine einzigartigen „Fotografien vom Ende des Staatssozialismus“. Seine Aufnahmen bestechen zum einen durch zahlreiche Motive, die zu ikonographischen Zeugnissen der Zeitgeschichte wurden, zum anderen durch den Umstand, daß Schmitt tatsächlich an nahezu allen Schauplätzen weilte, als dort die historische Stunde schlug: Bereits 1978 fotografierte er in Prag Václav Havel in der Gruppe der „Charta 77“, im August 1980 ist er dabei, als die Lenin-Werft in Danzig in den Streik tritt. Im Mai 1989 fotografierte Schmitt in Peking die letzten Freiheitsdemonstrationen auf dem Platz des Himmlischen Friedens und dokumentierte die Verbrechen der chinesischen Armee.

Ebenso mutig ist sein Einsatz im Baltikum, als sich dessen Staaten aus dem Sowjetimperium lösen. Es sind Bilder von der Subjektwerdung der Menschen im historischen Moment. So fängt er die Ereignisse vom 23. August 1989 ein, als zwei Millionen Bürger eine Lichterkette von 650 Kilometer Länge zwischen Wilna, Riga und Tallinn bildeten. In Riga begleitet Schmitt im Januar 1991 mit seiner Kamera die Verteidigung der JUNGEN FREIHEIT gegen die Rote Armee, über seinem Kopf pfeifen die Schüsse der sowjetischen Omon-Einheit – später porträtiert er die Täter. Ebenso ist er in Moskau, als Gorbatschow sich des Putsches erwehren muß, und schießt jene historische Aufnahme, in welcher Jelzin mit herrischer Geste den am Pult stehenden Gorbatschow verhört.

Von besonderem Interesse sind auch Schmitts Bilder aus seiner Zeit in der DDR, wo er von 1977 bis 1983 akkreditiert war. Zu den einmaligen Dokumenten gehören zweifelsohne der geheime Besuch Wolf Biermanns 1982 am Bett seines todkranken Freundes Robert Havemann oder das Bild von Markus Wolf am Grab seines Bruders Konrad. Durch Schmitts Aufnahme wurde der „Mann ohne Gesicht“, der Chef der MfS-Auslandsspionage, erstmals für die Öffentlichkeit sichtbar. Freilich reichte der Arm der Hauptverwaltung Aufklärung bis ins Bildarchiv des Stern, wo die entsprechenden Negative auf mysteriöse Weise verschwanden.

Der Autor Christoph Dieckmann fand für den damaligen Zustand die Beschreibung: „Die Zeit stand still, die Lebensuhren liefen.“ Trefflich bebildert diese Trostlosigkeit der „Flurschmuck“ eines FDGB-Ferienheims: Unterhalb eines Honecker-Bildes steht auf einem Nachtspeicherofen ein mickriger Kaktus. In Schmitts Bildern ist das Ende der DDR und damit des – vorläufig letzten – Menschheitsexperiments Sozialismus eindrucksvoll dokumentiert.

Die Ausstellung „Szenen und Spuren eines Falls. Die Berliner Mauer im Fokus der Photographen“ ist bis zum 6. Dezember täglich von 10 bis 18 Uhr, Sa./So. ab 11 Uhr, im Berliner Max Liebermann Haus, Pariser Platz 7, zu sehen. Telefon: 030 / 22 63 30 30, Internet: www.stiftung.brandenburger.de

Die Ausstellung „Harald Schmitt – Sekunden, die Geschichte wurden“ ist bis zum 13. Dezember täglich außer dienstags von 10 bis 20 Uhr im Berliner Martin-Gropius-Bau, Niederkirchner Str.  7, zu sehen. Telefon: 030 / 3 02 54 86-0, Internet: www..museumsportal-berlin.de

Fotos: Flurschmuck eines Urlauberheims des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes in Boltenhagen an der Ostsee, 6. August 1982, Robert Havemann am Arbeitsplatz seines Hauses, Grünheide, 7. August 1980: Einmalige Dokumente, Polnische Arbeiter machen Lech Walesa zu ihrem Anführer, Danzig, 29. August 1980: Historische Stunde, Harald Schmitt, Lange Schlange vor einem Intershop-Laden in Ost-Berlin, 5. April 1979, Harald Schmitt, Erstes Friedensforum in der Dresdner Kreuzkirche, 13. Februar 1982, Maurice Weiss, Brandenburger Tor, Berlin, Sylvester 1989/1990, Karsten de Riese, Öffnung der Massantebrücke, Berlin 1989, Hans W. Mende, Checkpoint Charlie, Berlin, 9. November 1989

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