© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/09 16. Oktober 2009

Literaturkritik der anderen Art
Nobelpreis für Herta Müller: Eine polnische Zeitung ätzt gegen den Bund der Vertriebenen
Andreas Wild

Erika Steinbach wird sich freuen“, kommentierte mit wütendem Unterton die einflußreiche, an sich nicht niveaulose  polnische Tageszeitung Rzeczpospolita („Die zwei Gesichter des Preises“), nachdem der diesjährige Literaturnobelpreis an Herta Müller gegangen war. Wieso diese Wut? Viele Leser freuen sich zur Zeit für Herta Müller. Warum soll sich da nicht auch Erika Steinbach freuen?

Aber der Gedankengang der Rzeczpospolita war offenbar folgender: Herta Müllers neuer, glänzend gelungener Roman „Atemschaukel“ (siehe Seite 25 dieser Ausgabe) hat das Leid der Banater Schwaben zum Thema, jener deutschen Minderheit in Rumänien, die 1945 kollektiv zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert worden war. Deutsche also als Opfer totalitärer Siegergewalt! Und dafür auch noch den Nobelpreis! Das ist ein Skandal! Das ist Wasser auf die Mühlen des Bundes der Vertriebenen in Deutschland und seiner Vorsitzenden Steinbach!

So kann man also auch Literaturkritik betreiben. Man muß nur auf der „richtigen“ Seite stehen. In deren Perspektive dürfen Deutsche immer nur Täter sein, nie und nimmer Opfer. Bitterstes Leid, das ihnen zugefügt wurde, darf korrekterweise immer nur als „gerechte Strafe“ dargestellt werden. Am besten freilich, man verschweigt es einfach oder minimiert es nach Kräften. Wer sich wie Herta Müller nicht daran hält, muß abgestraft werden.

Es ist dem Nobelpreiskomitee in Stockholm hoch anzurechnen, daß es diese perverse, gleichwohl verbreitete, von einflußreichen Kreisen geförderte Perspektive bewußt ignoriert hat. Seine Entscheidung war hellsichtig und literaturfördernd, wie selten in den letzten Jahren. Eine Autorin wurde geehrt, die ein unerhörtes, jeden Sinn für Gerechtigkeit und  Humanität aufstörendes Geschehen in makelloser Sprache abgespiegelt und dadurch ohne Peinlichkeit und falsche Töne in die kollektive Erinnerung eingeschreint hat. So und nicht anders entsteht gediegene Rezeptionskultur.

Hoffentlich halten sich künftige Entscheidungen auf dem jetzt markierten Niveau. Prämiert werden müssen Mut zu großen Themen, souveräne Sprachkunst und hohe Moralität, die allen Zumutungen widersteht.

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