© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/09 16. Oktober 2009

Der Befreier Bolívar gerät ins Zwielicht
Lateinamerika begeht den 200. Jahrestag des Beginns seiner Unabhängigkeitsbewegung von der spanischen Kolonialherrschaft
Bodo Bost

 Einige Staaten des spanischsprachigen Amerika beginnen in diesem Jahr mit den 200-Jahr-Feiern ihrer Unabhängigkeitsbewegungen von Spanien. Diese Feiern werden sich in insgesamt 16 Ländern bis zum Jahre 2021 hinziehen. Im Vergleich zu dem 500. Jahrestag der Entdeckung des Kontinents, der vor 17 Jahren noch unter oft doppeldeutigen Anzeichen auf dem gesamten Kontinent gefeiert wurde, stechen bei den jetzt anstehenden Feierlichkeiten ganz klar positive Aspekte hervor, allerdings werden die Schwerpunkte je nach Staat und politischer Ausrichtung verschieden gesetzt.

Als sich 1776 die Kolonien Englands in Nordamerika von ihrem Mutterland trennten, tauchten auch in Lateinamerika freiheitliche Gedanken auf. Dem Charisma und dem Idealismus von Simon Bolívar (1783–1830) verdanken die meisten Staaten Südamerikas ihre Freiheit und Unabhängigkeit. Doch nach etlichen Freiheitskriegen zerfiel der Kontinent in Nationalstaaten und somit die Hoffnungen auf die „Vereinigten Staaten von Lateinamerika“. Seitdem prägen Diktaturen und Militarismus das Bild des Subkontinents. Simon Bolívar ist an dieser Entwicklung nicht ganz unschuldig.

In seinen nicht einmal fünfzig Lebensjahren hat der 1783 in Venezuela geborene Bolívar die politische Topographie Südamerikas grundlegend verändert. Der junge Bolívar zählte als Sohn einer adeligen Kreolenfamilie selbst zu den Privilegierten des spanischen Kolonialsystems. Nach dem Tod seiner Eltern ging er 1799 nach Europa zu seinem Patenonkel, der am spanischen Hof ein hoher Beamter war. In Europa geriet er unter den Einfluß napoleonischer Ideen und der schottischen Freimaurerei. An den beiden Selbstkrönungsfeierlichkeiten Napoleons in Paris und Mailand nahm er persönlich teil.

Nach der ersten Heimkehr nach Venezuela und dem frühen Tod seiner jungen Frau kehrte er nach Europa zurück und bereiste zu Fuß, den Rucksack auf dem Rücken, fast den ganzen Kontinent. Zweimal traf er auf dieser Reise auch Alexander von Humboldt, dessen Lateinamerika-Forschungen damals das Bild des Kontinents in Europa prägten. Als er 1807 von Hamburg aus nach einem Abstecher durch die Vereinigten Staaten zum zweiten Mal nach Venezuela zurückkehrte, schloß sich der junge Bolívar der Widerstandsbewegung gegen den neuen spanischen Monarchen Joseph Bonaparte, einen Bruder Napoleons, an. Dieser noch von dem abgesetzten spanischen Herrscher Ferdinand VII. selbst geleitete Volksaufstand sollte zur Grundlage der Unabhängigkeitsbewegung in Südamerika werden.

Der erste Versuch, ein unabhängiges Venezuela zu erkämpfen, scheiterte jedoch 1812 gegenüber der wieder restaurierten spanischen Monarchie. Bolívar flüchtete nach Cartagena im heutigen Kolumbien. 1813 übernahm er dort ein militärisches Kommando und kam an der Spitze einer Armee nach Venezuela zurück. In Caracas, seiner Geburtsstadt, gründete er die zweite venezolanische Republik, nun war er „El Libertador“, der Befreier. Um die spanische Kolonialherrschaft zu brechen, scheute sich „der Befreier“ jedoch nicht über Leichen zu gehen; er proklamierte den guerra a muerte, den Krieg bis zum Tode, auch gegenüber der spanischstämmigen Zivilbevölkerung.

1819 vereinigte Bolívar Venezuela und Kolumbien zur „Republik Groß-Kolumbien“, deren Staatsoberhaupt er wurde. Drei Jahre später trat auch Equador der neuen Republik bei, 1825 wurde Bolívar auch Präsident von Peru und des nach ihm benannten Bolivien. Jetzt im Zenit seiner Macht berief er 1826 den ersten panamerikanischen Kongreß nach Panama ein. Bolívars Ziel war die Gründung eines lateinamerikanischen Staatenbundes und einer Nation von Kalifornien bis Feuerland, aber die Beschlüsse des Kongresses blieben weit hinter seinen Erwartungen zurück. Während er noch seinen Träumen nachtrauerte, ein Weltreich zu schaffen, entglitt die reale Macht seinen Händen. Bereits damals überwogen die zentrifugalen Kräfte, die den Kontinent später zu einem Hort endloser Aufstände und Verschwörungen machten.

Um seine Macht zu retten, erklärte sich Bolívar im Jahre 1828 zum Diktator der im Zerfall begriffenen Republik Groß-Kolumbien, ein Schritt, der ihn viel von seiner ursprünglichen Popularität kostete. Kurz darauf wurde im kolumbianischen Bogotá ein Anschlag auf ihn verübt. Obwohl er den Attentätern entkam, war er danach ein seelisch und physisch gebrochener Mensch. 1830 trat er von allen Ämtern zurück, wenige Monate später starb er auf dem Weg ins britische Exil noch auf kolumbianischem Territorium bei Santa Marta.

Die Weltseemacht Großbritannien war für Bolívar die letzte Hoffnung für den im Chaos versinkenden Heimatkontinent. Nach seinem Tode zerfiel auch Groß-Kolumbien, der letzte von Bolívar geschmiedete Staatenbund aus Kolumbien, Venezuela, Equador und Panama. Die Ideale Simon Bolívars hatten sich als unvereinbar mit der lateinamerikanischen Realität erwiesen. Paradoxerweise hatten die gerade erst von der europäischen Vorherrschaft befreiten Staaten Südamerikas nichts eiliger zu tun, als die damals in Europa gerade zur Mode gekommene Ideologie des Nationalismus auch nach Südamerika zu importieren. Unter der Vorgabe der nationalen Souveränität und Sicherheit gab es in Südamerika seitdem zahllose Staatsstreiche und Militärrevolten, ein Übel, das den Kontinent bis heute bedroht, auch wenn es in den letzten beiden Jahrzehnten eine Welle von Demokratieversuchen dort gibt.

Mehr noch als die gemeinsame Sprache Spanisch und die katholische Konfession verbinden die Staaten Südamerikas heute gewaltige gesellschaftliche Probleme, darunter vor allem das Übel der Korruption und die großen sozialen Ungerechtigkeiten. Von der Überwindung dieser Übel hängt heute das Schicksal dieser Staaten ab. Politisch und ökonomisch ist der Subkontinent gerade dabei die Koordinaten neu zu setzen. Mexiko, das einstmals wichtigste spanischsprachige Land Südamerikas, ist auf dem Weg, sich endgültig nach Nordamerika zu orientieren und so aus der von Bolívar gesetzten spanischsprachigen Solidargemeinschaft auszuscheiden.

Der Rest des Kontinents ist gekennzeichnet durch eine tiefgreifende politisch-ökonomische Rivalität zwischen Venezuela und Brasilien. Aus dieser Rivalität der sehr verschiedenen Staaten kann eigentlich nur Brasilien mit seinen kontinentalen Dimensionen als Sieger hervorgehen. Zwischen diesen beiden Machtpolen, Nordamerika einerseits und Brasilien andererseits, bleibt für die spanischsprachigen Staaten Süd-amerikas in der Zukunft eigentlich nur die Rolle eines Bindeglieds und Brückenbauers.

In Venezuela, seinem Geburtsland, wurde Bolívar bereits seit 1842 wieder als Libertador verehrt. Seine sterblichen Überreste wurden damals in einer prunkvollen Zeremonie von Kolumbien in die Hauptstadt Caracas überführt. Heute sieht sich in Venezuela der populistische Staatschef Hugo Chávez, der selbst durch einen Putsch versucht hatte, die Macht zu erringen, in der Rolle des Libertador. Die Machtübernahme von Chavez in Venezuela 1999 erhielt den Namen „Bolívarische Revolution“. Chavez änderte auch den Namen und die Verfassung des Staates in „Bolívarische Republik Venezuela“.  Dennoch führt Venezuela nicht den Reigen der Staaten des amerikanischen Subkontinents an, die jetzt den 200. Jahrestag ihrer Befreiung feiern. Bereits am 25. Mai dieses Jahres beging Bolivien den 200. Jahrestag des Volksaufstandes von Chuquisaca (Sucre), mit dem dieser nach Simon Bolívar benannte Andenstaat die spanische Vorherrschaft als erster abgeworfen hatte. Am 10. August folgte Equador mit den Feierlichkeiten zum 200. Jahrestag des Aufstands von Quito.

2010 führt Argentinien den Reigen an, wenn sich im Mai die Vertreibung des spanischen Vizekönigs zum 200. Mal jährt. Am 20. Juli 2010 begeht auch Kolumbien den 200. Jahrestag der Vertreibung des spanischen Vizekönigs und der Errichtung einer republikanischen Regierung. Am 16. September 2010 gedenkt Mexiko des 200. Jahrestags des Aufstands von Dolores, der von dem später hingerichteten Priester Hidalgo angeführt wurde. 2011 wird auch in Chile, Venezuela und Paraguay der 200. Jahrestag der Unabhängigkeitsbewegungen gefeiert. Als letzter Staat des Subkontinents begeht Uruguay 2014 seinen Jahrestag. Die vielen Kleinstaaten Zentralamerikas müssen allerdings noch bis 2021 warten, bis sie zweihundert Jahre Unabhängigkeit feiern können. 

Foto: Südamerikanischer Unabhängigkeitskämpfer Simón Bolívar (1783–1830): Staatenbund von Kalifornien bis Feuerland geplant

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