© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/09 16. Oktober 2009

Von der Welt preisgegeben
Blockade des Gaza-Streifens: Seit über zwei Jahren sind die 1,5 Millionen Einwohner von der Außenwelt abgeschnitten
Johannes Zang

Israelische Journalisten waren seit Jahren nicht mehr im Gaza-Streifen. Im vergangenen Herbst wurde es auch für ausländische Journalisten und Mitarbeiter humanitärer Organisationen schwieriger, bisweilen unmöglich, die israelische Genehmigung für die Einreise in diesen 365 Quadratkilometer kleinen Streifen zu erhalten. Denn bis heute kontrolliert Israel – und nicht die Palästinensische Behörde – alle Landgrenzen, die Küstenlinie und den Luftraum über dem Gaza-Streifen.

Während Ausländern und selbst Kirchenoberhäuptern aus Jerusalem die Einreise nach Gaza stufenweise erschwert wurde, galt dies umgekehrt auch für die Ausreise der Palästinenser aus Gaza. Seit März 2006 durfte kein palästinensischer Arbeiter mehr nach Israel fahren. Und seit Sommer 2007 ist der Gaza-Streifen hermetisch abgeriegelt – für Menschen und Waren.

Seit den blutigen Hamas-Fatah-Bruderkämpfen, genauer: seit dem 12. Juni 2007 hält Israel alle Grenzen geschlossen. Seitdem dürfen nur noch Händler, Mitarbeiter humanitärer Organisationen sowie Schwerstkranke nach vorheriger Koordination mit israelischen Stellen nach Israel oder ins palästinensische Westjordanland reisen. Über 100 Kranke sind bereits verstorben, weil man ihnen entweder die Ausreise verweigerte oder der Passierschein, eine Art Visum, zu spät ausgestellt wurde.

Seit 27 Monaten läßt Israel nur die Einfuhr humanitärer Güter in den Gaza-Streifen zu, und auch das nicht immer. Gleiches gilt für Treibstoff, Benzin und Diesel; nach Angaben der englischen Hilfsorganisation Oxfam kann das Kraftwerk derzeit nur mit einer Kapazität von 62 Prozent laufen – es fehlt an industriellem Diesel. 

Schon Mitte März 2008, acht Monate nach Verhängen der Blockade, verkündete die palästinensische Denkfabrik Pal-Think im Internet den „Tod der Industrie“. Da hatte die israelische Abriegelung schon 96 Prozent aller Industriebetriebe zur Schließung gezwungen. 140.000 Menschen verloren ihre Arbeit, da ihre Firmen weder ex- noch importieren konnten. Als Mahnmal wurde in Gaza-Stadt am 18. März 2008 der Hauptfriedhof der Gaza-Fabriken eingeweiht, in der Hoffnung, die Weltgemeinschaft würde Israel zwingen, die Blockade aufzuheben. Damals sagte Nasser al-Helou, Chef einer Firma für Hochsicherheitsstahltore: „Dieser Friedhof zeigt, daß die palästinensische Wirtschaft bereits zu Grabe getragen worden ist. Dieser Friedhof birgt Familien, die bei lebendigem Leibe begraben wurden.“ Er selbst mußte 32 Männer auf die Straße setzen.

Auch Suhaila Tarazi vom einzigen christlichen Krankenhaus im Gaza-Streifen weiß nur zu gut, welche Geduld einem die Abriegelung abverlangt. Um einen dringend benötigten Warmwasserboiler aus den Vereinigten Staaten einführen zu dürfen, mußte sie in zahllosen Telefonaten über fünf Monate lang verhandeln – mit israelischen Stellen mit Hilfe des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. Die palästinensische Christin sagt: „Wir werden jeden Tag gekreuzigt.“

Etwas Hoffnung keimte auf, als am 19. Juni um sechs Uhr morgens der Waffenstillstand in Kraft trat – sollte mit ihm doch auch schrittweise die Blockade Gazas beendet werden. Doch der Wochenbericht der UN-Agentur OCHA für den Zeitraum vom 18. bis 24. Juni 2008 dokumentierte bereits die ersten Verletzungen der Waffenruhe: Am 23. Juni verwundete die israelische Armee (IDF) in Nord-Gaza einen 67jährigen Palästinenser, einen unbewaffneten Zivilisten, als Soldaten das Feuer auf eine Gruppe von Menschen eröffneten, die nahe der Grenze Holz sammelten. Am selben Tag schossen Palästinenser zwei Mörsergranaten ab, einen Tag später verletzten sie mit vier rudimentären Raketen zwei israelische Zivilisten.

Hamas hielt sich im Gegensatz zu anderen palästinensischen Gruppierungen bis Anfang November weitgehend an die Waffenruhe. Damit war es vorbei, als die israelische Armee am 4. November einen Tunnel angriff, der angeblich der Entführung israelischer Soldaten dienen sollte. Dabei starben sechs Hamas-Mitglieder. Hamas ging nun wieder zum Raketenbeschuß auf Israel über. Und Israel verkürzte die Grenz­öffnungszeiten, so daß durchschnittlich nur noch 23 LKW-Ladungen pro Tag in den Streifen gelangten, der etwa so groß wie das Stadtgebiet von Köln ist. Der Mangel verschlimmerte sich nochmals. Aufgrund von fehlendem Diesel lief das Kraftwerk nur die Hälfte des Monats, es kam zu ständigen Stromausfällen. Mehr als 30 von 47 Bäckereien in Gaza-Stadt stellten den Betrieb ebenso ein wie fünf der sechs Getreidemühlen. Die Hälfte der Bevölkerung von Gaza-Stadt hatte nur einmal pro Woche für mehrere Stunden Wasser. 

In diesem Moment äußerster Isolation begann Israel seinen Krieg, einen Tag nach Weihnachten. Da waren viele Staatschefs im Urlaub, und der noch nicht vereidigte US-Präsident Barack Obama hielt sich mit einer Stellungnahme zurück. Ein Palästinenser aus Gaza, Vater von drei Kindern, flehte anonym im Internet: „Ich schwöre, daß ich heute abend für die Israelis gebetet habe, daß sie jemand vor ihrer eigenen Führung schützt. Sie spielen Hamas in die Hände. Hamas wird nur noch stärker. Nach diesem Krieg wird Hamas 50.000 Selbstmordattentäter haben.“ Das Leiden während des Krieges ist nach Aussagen vieler Einwohner unbeschreiblich gewesen. Krankenhausdirektorin Suhaila Tarazi sagte während des 22tägigen Krieges: „Es gibt sogar Gegenden, in denen die Verletzten nicht geborgen werden dürfen oder wo Angehörige ihre Toten nicht bestatten dürfen.“

Der Krieg hat nicht nur 1.326 Palästinenser und 13 Israelis getötet und Tausende Gazaner zu Krüppeln gemacht. Er hat Vermögen von fast zwei Milliarden US-Dollar vernichtet, über 4.000 Wohnhäuser gänzlich zerstört, 21.000 weitere ebenso beschädigt wie 1.500 Fabriken, 20 Moscheen und zehn große Wasser- und Abwasserleitungen; selbst Krankenhäuser wie das Al-Quds-Spital beschoß die israelische Armee. Der jüngste Bericht der UN-Kommission für Handel und Entwicklung (UNCTAD) veranschlagt die „direkten und indirekten Verluste für die Wirtschaft auf vier Milliarden US-Dollar.“ All das habe die Bevölkerung in „Tiefen der Armut gestürzt, wie man sie seit Generationen nicht mehr gekannt hat.“

Oxfams Mediendirektor Michael Robin Bailey hat seit Kriegsende mehrmals mit unterschiedlichen Mitarbeitern den Gaza-Streifen besucht. „Ich habe die Fernsehbilder der Bombardierung Gazas gesehen, ich habe gesehen, wie die Phosphorgranaten in der Luft explodierten. Aber nichts hat mich auf das Ausmaß der Zerstörung vorbereitet“, bekennt er offen.

Bailey sah in Gaza-Stadt das bombardierte Büro einer Zementfabrik, davor neun LKW-Zementmixer und drei große Fahrzeuge mit Zementpumpe „wie Spielzeugautos“ auf die Seite gekippt, seiner Meinung nach das Werk von Bulldozern oder Panzern; er sah bombardierte Brunnen und sprach mit einem Hühnerfarmbesitzer, dessen „65.000 lebende Hühner von Armee-Bulldozern zu Tode gewalzt wurden“. Bailey schweigt, ihm stehen Tränen in den Augen. Dann stellt er Fragen: „Welche militärische Bedeutung hat das? Wie kann man das rechtfertigen?“ Seiner Meinung nach hat Israel das angebliche Kriegsziel nicht erreicht. „Israel hat die Zahl der (Hamas-)Kämpfer nicht wesentlich verringern können, also: Wozu das alles?“

Ähnliche Fragen dürften auch die UN-Untersuchungskommission geleitet haben, die im September ihren 574 Seiten starken Bericht vorgelegt hat. Herausgefunden hat die vom südafrikanischen Richter Richard Goldstone geleitete Kommission, daß Raketen auf Moscheen zur Hauptgebetszeit abgeworfen und weiße Fahnen schwenkende Menschen beschossen wurden. Das Urteil: Auf beiden Seiten wurden Kriegsverbrechen und „möglicherweise auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ begangen.

Kluft zwischen Hamas und Fatah ist kaum zu schließen

Die israelische Politik weist diese Vorwürfe zurück, Regierungssprecher Mark Regev nannte den Bericht „in Sünde geboren“, der Leitartikel der kleinen Zeitung Israel Hayom sprach von „klassischem Antisemitismus“, und Kommentator Ari Shavit von Ha’aretz unterstellt Richter Goldstone Doppelmoral. „Nur von Israel wird verlangt, die moralischen Standards hochzuhalten, die keine Supermacht und kein anderer Staat im Nahen Osten hochhalten muß“, sagt Shavit und führt an, die USA hätten beispielsweise in Afghanistan und im Irak Tausende von unschuldigen Zivilisten getötet.

Für die Hamas stellt der Goldstone-Bericht hingegen eine „klare Verurteilung Israels wegen Kriegsverbrechen gegen Zivilisten“ dar. Als der palästinensische Präsident Mahmud Abbas – angeblich auf politischen Druck aus den USA und wirtschaftlichen Druck seitens Israels – entschied, die Abstimmung im UN-Menschenrechtsrat über den Goldstone-Bericht für ein halbes Jahr aussetzen zu lassen, provozierte er nicht nur den Zorn der Hamas, sondern der palästinensischen Gesellschaft, der arabischen und muslimischen Welt. Eine Sargattrappe, mit dem Porträt von Abbas versehen, wurde beispielsweise von wütenden Menschen in Gaza in Brand gesteckt; anderswo wurde sein Bild mit Schuhen beworfen, was im Orient ein starkes Zeichen für abgrundtiefe Verachtung ist. „Er hat das Blut der Märtyrer verkauft!“ warf man ihm im Gaza-Streifen vor.

Dort geht das Leiden der 1,5 Millionen Einwohner weiter. Die Blockade besteht nach wie vor. Vor 60 Jahren, während der elfmonatigen Blockade Berlins, rief Bürgermeister Ernst Reuter die Welt auf: „Ihr Völker in Amerika, in England, in Frankreich, in Italien! Schaut auf diese Stadt und erkennt, daß ihr diese Stadt und dieses Volk nicht preisgeben dürft!“ Viele Menschen in Gaza fühlen sich preisgegeben, abgestempelt, vergessen.

Auch die Journalistin Bettina Marx kommt in ihrem Buch „Gaza. Berichte aus einem Land ohne Hoffnung“ (Zweitausendundeins, Frankfurt 2009, 19,90 Euro) zu diesem Urteil: „Offenbar soll niemand mehr hinschauen. Niemand soll mehr sehen, was sich im Gaza-Streifen abspielt. Die 1,5 Millionen Menschen, die hinter den unüberwindlichen Grenzen leben, sollen von der Weltöffentlichkeit vergessen werden.“

 

Johannes Zang hat fast neun Jahre in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten gelebt. Sein Buch „Unter der Oberfläche. Erlebtes aus Israel und Palästina“ (AphorismA, Berlin) ist gerade zum dritten Mal aufgelegt worden. Zang arbeitet derzeit an einem Buch über Gaza, das Anfang 2010 erscheinen wird.

Foto: Leben am Rande der Existenz im Gaza-Streifen (Oktober 2009): Ohne die Hilfe humanitärer Organisationen wären die palästinensischen Flüchtlinge in Rafah längst verloren

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