© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/09 16. Oktober 2009

Die Macht der Tabus
Thilo Sarrazin gelang es, eine Bresche ins Dickicht politisch korrekter Denkverbote zu schlagen
Michael Paulwitz

Thilo Sarrazin wußte es, Eva Herman hat es bitter lernen müssen: Es gibt keine Gesellschaft ohne Tabus. Selbst die vermeintlich aufgeklärtesten kennen mit Bannflüchen belegte „Das darfst du noch nicht einmal denken“-Verbote. Das Unberührbare zu berühren, das Unaussprechliche auszusprechen, das ist Autobahn und geht gar nicht, wie Hilfsschamane Johannes B. Kerner anläßlich der rituellen Verstoßung seiner sündenfälligen Kollegin einst verkündete. Wer so etwas tut, wird aus der Gruppe ausgeschlossen; er wird zur Unperson gestempelt oder wenigstens kaltgestellt wie Thilo Sarrazin.

Tabus sind die stärkste und mächtigste Form des Verbots. Sie verweisen auf das Überweltliche, Unbegreifliche. Sie schweißen Gruppen und Gesellschaften zusammen, indem sie Erfahrung überliefern, Grenzen ziehen und bestimmte Sphären bei Strafe des Ausschlusses aus der Gemeinschaft dem menschlichen Zugriff entziehen. Weil das Wort „Tabu“ im Zeitalter der Aufklärung von einem britischen Entdeckungsreisenden aus der Begegnung mit exotischen Kulturen mitgebracht wurde, haben wir uns angewöhnt, das ganze Phänomen für primitiv und überholt zu halten: ein Relikt aus archaischen Zeiten, das es im Namen des Fortschritts und der Freiheit des Individuums mit den Mitteln des Verstandes zu überwinden gelte.

In der Auflösung überlieferter Selbstverständlichkeiten haben wir es in der Tat weit gebracht. Pornographie und Sexualität in ihren bizarrsten Ausprägungen diskutiert man heutzutage in Feuchtgebiets-Feuilleton und Unterschichtenfernsehen so gelassen und routiniert, wie man sein Hörnchen in den Frühstückskaffee tunkt. Siechtum, Krankheit und Tod haben längst den Marktplatz der Eitelkeiten erobert, seit selbst Spiegel-Redakteure ihre Krebstagebücher veröffentlichen, die Altersdemenz professoraler Berühmtheiten zum Bestsellerthema für schreibende Angehörige geworden ist und Boulevardsternchen ihr Sterben im Internet feilbieten. Sogar uralte und nahezu allgemeingültige Tabus wie Inzest, Kannibalismus und Pädophilie sind inzwischen Gegenstand wohlig-gruseliger Erörterung und sozialpädagogischer Fürsorge.

Tabuloser sind wir dadurch nicht geworden; freier auch nicht. Vor die geschwächten zwischenmenschlichen Tabus sind neue, willkürlich gesetzte, politische Tabus getreten – Tabus, die nicht der Festigung von Familie und Sozialverband und dem Schutz vor selbstzerstörerischer Grenzüberschreitung dienen und auch nicht verheerende Gendefekte und Krankheiten verhindern sollen wie das Inzest- oder das Kannibalismusverbot.

Moderne Tabus setzen an einem wunden Punkt der Gesellschaft an und entziehen bestimmte Themen dem öffentlichen Diskurs und der rationalen Auseinandersetzung. Hitler und der Nationalsozialismus sind der wunde Punkt der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Niemand wußte das besser als die Kulturrevolutionäre der Vergangenheitsbewältigung, die sich mit emanzipatorischem Furor am Brechen überlieferter Tabus abgearbeitet haben, um zu Wächtern neuer Tabus zu werden, die ihre Deutungsmacht und Einflußhoheit schützen.

Das Tabu als Denkverbot ist nämlich ein effektives Werkzeug zur Steuerung der öffentlichen Meinung. Es wirkt wie ein innerer Zensor: Die rituelle Verdammung des Dämons und des absolut Bösen ist zu einem zivilreligiösen Kult geworden, der von jeder historisch-kritischen Beschäftigung und Differenzierung abschrecken soll. Vom Nazi-Tabu abgeleitet sind das zum Rechts-Tabu vereinfachte Rechtsextremismus-Tabu und das Rassismus-Tabu. Darin eingeschlossen: das Tabu des grundsätzlichen Zweifels am Multikulturalismus, einer Ideologie, die von ihren ursprünglichen Propagandisten durchaus als kollektive „Wiedergutmachung“ für NS-Verbrechen gedacht war.

Wer an eines dieser Tabus rührt, riskiert schwerste Sanktionen. Der Tabubrecher wird zum Sündenbock, der stellvertretend für alle anderen geopfert wird. Um so besser und gerechter können sich anschließend die übrigen fühlen – und um so dichter wird sich die vom statuierten Exempel eingeschüchterte Herde um ihre Anführer scharen, die den Akt der Exkommunikation mit quasi hohepriesterlicher Unbedingtheit vollziehen.

Mit dem konservativen CDU-Abgeordneten Martin Hohmann, der sich auf das Minenfeld der Vergangenheitsbewältigung gewagt hatte, hat das gut funktioniert. Mit der TV-Moderatorin Eva Herman, die sich unvorsichtigerweise am Tabuthema Frauenberufstätigkeit vergriffen hatte, ebenfalls: Spätestens wenn die NS- oder die Antisemitismus-Keule ausgepackt wird, verstummt jede Diskussion, der Tabubrecher wird zum Unberührbaren.

Auch beim ehemaligen Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin schien der Fall klar: Wer im Einwanderer nicht pauschal das unschuldige Gesellschaftsopfer sieht, wer noch dazu für Intelligenz und Sozialverhalten auch genetische und kulturelle Bedingungen in Betracht zieht, der muß in die Wüste. Doch das Ritual hat Risse bekommen. Der Auszugrenzende blieb diesmal nicht allein: Leitartikler und Leserbriefschreiber solidarisierten sich scharenweise mit Sarrazin. Selbst die stärksten gegen ihn abgefeuerten Kaliber erwiesen sich als Rohrkrepierer. So mußte der Generalsekretär des Zentralrats der Juden seinen Hitler-Vergleich nach Kritik aus den eigenen Reihen zurücknehmen. Thilo Sarrazin hat damit geschafft, was nie passieren durfte: Er hat eine öffentliche Debatte über das bis dato mit krampfhaftem Schweigen und Wegschauen bedeckte Problemfeld der Einwanderungspolitik angestoßen. Der Tabubrecher ist zum Breschenschläger geworden.

Für mutige Aufklärer eröffnet sich ein weites Feld zur Benutzung des eigenen Verstandes: Sowenig ein menschliches Gemeinwesen ohne einen eisernen Grundbestand an anthropologischen Tabus auskommen kann, so sicher verschwinden manipulative Zeitgeist-Tabus von der historischen Bühne, wenn sich nur eine ausreichende Zahl von Mutigen findet, die sich nicht mehr einschüchtern lassen.

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