© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/09 09. Oktober 2009

„Rassenachtung“ in Mittelafrika
Karsten Linne über die eine sekundäre Rolle spielenden kolonialen Konzeptionen der Nationalsozialisten
Hans-Joachim von Leesen

Lange vor 1884, als Südwestafrika als erste deutsche Kolonie auf Initiative eines deutschen Kaufmannes unter den Schutz des Reiches gestellt wurde (JF 18/09), hatten die übrigen europäischen Staaten weite Teile der in europäischen Augen noch nicht zivilisierten Welt als Kolonien in ihren Machtbereich einbezogen. Großbritannien allein beherrschte ein Viertel der Erdoberfläche. So blieben dem aufstrebenden Deutschen Reich nur noch wenige Flächen, die es als Kolonien erwerben konnte, um sie auf weite Sicht als Rohstoffquellen, Absatzgebiete und auch Siedlungsland für den Bevölkerungsüberschuß zu nutzen. Dabei ging es nicht anders vor als alle übrigen Kolonialmächte.

Nach dem für Deutschland verlorenen Ersten Weltkrieg diktierten Frankreich, Großbritannien, die USA, daß Deutschland zugunsten der Siegermächte auf alle seine Rechte und Ansprüche an den überseeischen Besitzungen verzichten müsse. Begründet wurde die Forderung mit der propagandistischen Behauptung, die eingeborene Bevölkerung der deutschen Kolonien habe Widerspruch dagegen erhoben, daß sie je wieder unter die Oberherrschaft Deutschlands gestellt würde,

So war es verständlich, daß nahezu alle Parteien der Weimarer Republik gegen das Versailler Diktat Widerspruch einlegten, so auch die NSDAP. Sie unterschied sich nicht von den übrigen Parteien, wenn sie in ihrem Parteiprogramm unter Punkt 3 „Kolonien zur Ernährung unseres Volkes und Ansiedlung unseres Bevölkerungsüberschusses“ forderte. Den Rahmen bildete das Verlangen nach Aufhebung des Friedensvertrages von Versailles im Punkt 2 des Programms.

Im aktuellen Buch „Deutschland jenseits des Äquators? Die NS-Kolonialplanungen für Afrika“ versucht der Sozialwissenschaftler Karsten Linne, Jahrgang 1961, die Kolonialplanungen darzustellen, die das nationalsozialistische Deutschland zur Durchsetzung seiner Forderung entwickelte.

Da das Buch in der Reihe „Schlaglichter der Kolonialgeschichte“ erscheint, geht man mit Skepsis heran, weist die Reihe doch nicht wenige Titel auf, die in ihrer Diktion antideutschen britischen Propagandaschriften aus der Zeit nach 1918 ähnelten. Aber man wird angenehm überrascht, da Linne im wesentlichen den Fakten und Dokumenten den Vorrang gegenüber staatsbürgerkundlichem Ehrgeiz einräumt. Zwar findet man zeitgeistkonforme Formulierungen – so die Behauptung, die deutschen kolonialen Ambitionen seien ein Sprungbrett für den „Endkampf um die Weltherrschaft“ gewesen –, erfährt aber einige Seiten weiter praktisch als Widerlegung dieser These, daß Hitler an deutschen Überseekolonien uninteressiert gewesen sei.

Es gab in Deutschland am Ende des Weltkrieges nur wenige Afrikaner, die aus den ehemals deutschen Kolonien stammten. Sie waren entweder Darsteller aus „Völkerschauen“ oder Söhne der schwarzen Eliten, die vor Ausbruch des Krieges nach Deutschland zur Ausbildung gekommen waren. Es sollen, so der Autor, nicht mehr als dreißig Personen gewesen sein. Wenn er auch von zweien dieser Afrikaner berichtet, daß sie wegen Verstoßes gegen damalige Gesetze vor Gericht standen und verurteilt wurden (einer von ihnen wegen „Rassenschande“ zum Tode), kann doch von systematischer Verfolgung keine Rede sein. Alle überlebten den Zweiten Weltkrieg.

Für Hitler hatte die Rückgewinnung der Kolonien keine Priorität, wie man schon seinem Buch „Mein Kampf“ entnehmen kann. Trotzdem hielt das Deutsche Reich die Forderung nach Rückgabe der Kolonien aufrecht; Linne meint, daß die Reichsregierung sie als Verhandlungsmasse nach einem gewonnenen Krieg verwenden wollte.

Aber es wurden auch Vorbereitungen getroffen für die Zeit, in der man hoffte, daß die früheren Kolonien nach der siegreichen Beendigung des Krieges Deutschland wieder zurückgegeben würden – ergänzt um einige früher zum französischen Kolonialreich gehörende, die ein abgerundetes deutsches Mittel-afrika ergeben sollten. Auch die Kirchen boten sich dem Reich an, um zu gegebener Zeit in den Kolonien wieder Missionsarbeit zu leisten. Im Hamburger Tropenkrankenhaus wurden Ärzte speziell für den Einsatz in Übersee ausgebildet. Die Polizei führte bis in den Krieg hinein Kurse für Kolonialbeamte durch. Eine stehende Kolonialtruppe war jedoch nicht vorgesehen; wechselnde Truppenteile der Wehrmacht sollten zeitweise in den Kolonien stationiert werden. Auch eine Masseneinwanderung Deutscher war nicht geplant.

Die Deutschen sollten lediglich die führende Schicht bilden, um das Land zu verwalten und eingeborene Arbeitskräfte auszubilden. Die Schwarzen sollten jeweils ein halbes Jahr zur Arbeit, etwa zum Bau von Straßen und Bahnlinien, herangezogen werden, um dann in ihre Stammesgebiete zurückzukehren. So sollte vermieden werden, daß sie sich ihren Stämmen entfremdeten oder gar zum Proletariat herabsanken. Während in den Kolonien tätige Deutsche nach deutschem Recht behandelt werden sollten, war für Afrikaner die Stammesrechtsprechung vorgesehen. Die eigenständigen Eingeborenenkulturen seien zu fördern.

Da für die Erschließung des riesigen Afrika zu wenig Menschen auf dem Kontinent lebten, war eine bemerkenswerte Familienpolitik vorgesehen: Afrikanischen Müttern sollten „Schonzeiten“ sechs Wochen vor und sechs Wochen nach der Geburt eingeräumt werden. Zwar sei die nationalsozialistische Sozialpolitik im Grundsatz paternalistisch angelegt gewesen, so der Autor, doch geht aus seinen Darlegungen hervor, daß man von einer Diskriminierung der Afrikaner nicht sprechen kann. An die Stelle von Rassenhetze, so die Parole, sollte die „Rassenachtung“ treten, um die afrikanischen Völker in ihren Eigenarten zu erhalten, denn, so die NS-Ideologie, jede Rasse besitze ihren Eigenwert.

Zur Kolonialpolitik gehörte auch der Madagaskar-Plan, also die zwangsweise Umsiedlung aller Juden aus dem deutschen Machtbereich auf die vor der südlichen Ostküste Afrikas liegende Insel. Am 10. Februar 1942 entschied Hitler jedoch, daß die Juden „nach dem Osten abgeschoben werden sollten“. Daher solle man die Insel nicht mehr für die „Endlösung“ einplanen.

Alle diese Vorbereitungen fanden in einer Umwelt statt, in der noch niemand an eine Entkolonisierung dachte, wie sie bald nach Kriegsende um sich griff. Immer noch ging man nicht nur in Deutschland, sondern überall bei den Kolonialmächten davon aus, daß die naturgegebene „Überlegenheit der weißen Rasse“ sie legitimiere, die farbigen Völker „zu zivilisieren“ – man denke an das britische Wort von „des weißen Mannes Bürde“, die er auf sich nehme, um die Schwarzen aus ihrer „Unmündigkeit zu befreien“.

Einige der deutschen Fachleute für Kolonialpolitik wurden nach dem Krieg von den US-Amerikanern angeworben und ihre Forschungen und Entwicklungspläne übernommen, als die Sowjetunion ihren Einfluß in Afrika vergrößerte. Andere erwarben sich beim Wiederaufbau Deutschlands in führenden Positionen in Wirtschaft und Wissenschaft Verdienste. Spätestens die Entkolonisierung machte dann allen überseeischen Kolonialträumen ein Ende.

Karsten Linne: Deutschland jenseits des Äquators? Die NS-Kolonialplanungen für Afrika. Ch. Links Verlag, Berlin 2009, broschiert, 216 Seiten, Abbildungen, 24,90 Euro

Foto: Deckblatt des Programmhefts für die „Deutsche Afrika-Schau“ 1937/38; das Kolonialspiel „Wir befreien Afrika“: Für Hitler hatte die Rückgewinnung der Kolonien keine Priorität außer als Verhandlungsmasse des Deutschen Reiches nach einem gewonnenen Krieg

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