© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/09 09. Oktober 2009

„Der Union fehlt der Respekt vor dem Volk“
Der ehemalige FAZ-Journalist Karl Feldmeyer und Detlef Kühn, Präsident a. D. des Gesamtdeutschen Instituts, über konservative Chancen nach der Wahl
Dieter Stein / Moritz Schwarz

Herr Feldmeyer, Sie haben jahrelang CDU gewählt. Diesmal nicht. Warum?

Feldmeyer: Weil die Union die Positionen, die mir wichtig sind, Stück für Stück aufgegeben hat.

Herr Kühn, Sie sind FDP-Mitglied. Bei Ihnen wenigstens müßten am Wahlabend doch die Sektkorken geknallt haben?

Kühn: Na ja, immerhin erhoffe ich mir von der neuen Koalition eine Wende in der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Vor allem, daß endlich diese elende Schuldenmacherei eingedämmt wird.

Feldmeyer: Für mich waren nicht so sehr wirtschaftspolitische, sondern wertbezogene Fragen ausschlaggebend.

Kühn: Natürlich, da hat Karl Feldmeyer recht: So sehr ich in der Wirtschafts- und Finanzpolitik hinter meiner Partei stehe – als Nationalliberaler, der der Partei 1964 unter dem Vorsitz von Erich Mende aus deutschlandpolitischen Gründen beigetreten ist, mache ich mir ob der neuen Koalition in gesellschaftspolitischen Fragen keinerlei Hoffnungen. Denn nehme ich Werte-Fragen zum Maßstab, ist die FDP für mich nur eine Enttäuschung.

Sie wurden zwei Jahre später Mitarbeiter der FDP-Bundestagsfraktion, später Präsident des Gesamtdeutschen Instituts in Bonn, einer Bundesanstalt unter der Obhut des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen.

Kühn: Die Liberalen haben sich damals noch strikt für die deutsche Einheit eingesetzt, haben es streng abgelehnt, Deutschland als ein Einwanderungsland zu betrachten, und hätten zum Beispiel so etwas wie dem Vertrag von Lissabon sicher nicht zugestimmt. Aber alle diese Positionen sind, trotz der jüngsten patriotischen Töne Guido Westerwelles, schon lange geräumt.

Dennoch haben Sie gewählt.

Kühn: Ich habe sogar genauso gewählt, wie es meine Partei von mir erwartet hat: Zweitstimme FDP, Erststimme dem CDU-Kandidaten, weil ich das größte  Übel, die Große Koalition, abwählen wollte. Während mein Freund Feldmeyer, ich glaube, das darf ich verraten, seinen Wahlzettel ungültig gemacht hat.

Feldmeyer: Das ist richtig. Ich habe gewählt, aber ungültig.

Herr Feldmeyer, Sie waren als Parlamentskorrespondent der „FAZ“ von 1976 bis 2004 zuständig für die Berichterstattung über die CDU. Warum sind Sie mittlerweile von der Union so enttäuscht? 

Feldmeyer: Ich sagte es schon: Weil die CDU in mir wichtigen politischen Themen ihre Position verändert, Positionen der politischen Linken übernommen und damit das ihren Wählern gegebene Versprechen gebrochen hat. Beispiele dafür gibt es zuhauf. Als erstes nenne ich die Familienpolitik. Seit Adenauers Zeiten gab es in der CDU einen Konsens darüber, daß die klassische Familie, in der sich die Frau und Mutter um Kinder und Haushalt kümmert und der Mann um das Einkommen, das politische Leitbild ist. Ebenso unstrittig war, daß die Politik vor der Familie haltmacht. Mit der Kanzlerschaft Merkels wurden beide Prinzipien in ihr Gegenteil verkehrt. Die Politik mischt sich in die Entscheidungen der Familien massiv ein, indem sie ein bestimmtes Verhalten finanziell belohnt – nämlich die Babypause von Vätern – und indem sie die klassische Familie finanziell diskriminiert. Mütter, die sich ausschließlich der Familie widmen, werden im Babyjahr mit monatlich 300 Euro abgespeist, berufstätige Frauen erhalten dagegen bis zu 1.800 Euro. Diese Kehrtwende vollzog die CDU, ohne sie auch nur öffentlich zu erklären oder zu rechtfertigen. Ein anderes Beispiel für einen schwerwiegenden Wortbruch ist die noch von Kohl getroffene Entscheidung, die „Bodenreform“ nach der Wiedervereinigung beizubehalten.

Sie meinen die Enteignungen, die nach 1945 in der Sowjetzone stattfanden.

Feldmeyer: Um dafür die Billigung des Bundestags zu bekommen, verstieß Kohl gegen das Grundgesetz und belog das Parlament. Einen schlimmeren Vertrauensbruch kann man sich nicht vorstellen. Und Frau Merkel fand nichts dabei, dem Zuwanderungsgesetz zur Mehrheit  zu verhelfen. Über Jahrzehnte gehörte die Versicherung „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ zu den Grundpositionen der CDU. Statt eine dementsprechende Politik zu machen, besorgte die CDU im Bundesrat die Mehrheit für das von Grünen und SPD initiierte Gesetz. Auch für diesen Kurswechsel blieb sie jede öffentliche Erklärung schuldig. Das sind Beispiele, deren Reihe sich leicht verlängern ließe. Sie sind für konservative Wähler nicht nur in der Sache empörend. Sie zeigen auch in der Form, daß der CDU Respekt gegenüber dem Wahlvolk, dem Souverän jeder Demokratie, fehlt, denn sie verweigert ihm jede Rechenschaft und ignoriert es schlichtweg. Das empört nicht nur den Konservativen, sondern auch den Demokraten in mir.

In einem Interview mit dem „Zeit-Magazin“ haben Sie unlängst davon gesprochen, „politisch heimatlos“ geworden zu sein.

Feldmeyer: Ja, der Europawahlkampf bestätigte mir das einmal mehr. Das wichtigste Vorhaben in der Geschichte der EU ist der Lissabon-Vertrag. Durch ihn werden wichtigste Zuständigkeiten des Staates, die bisher von Bundestag und Bundesregierung wahrgenommen werden, nach Brüssel verlagert. Über den Inhalt dieses Vertrags aber wurde im Europawahlkampf von den Parteien sowenig gesprochen wie auch ansonsten.

Warum?

Feldmeyer: Sie verschweigen ihn offenkundig aus der Befürchtung heraus, die Wähler würden diese Verlagerung der Zuständigkeiten von der von ihnen gewählten Regierung auf die anonymen Brüsseler Institutionen ablehnen. Dazu gehört nicht nur die Ausdehnung der Mehrheitsentscheidungen auf Bereiche, über die bisher in Brüssel nur einstimmig befunden werden konnte. Dazu gehört auch die Übertragung der Kompetenz-Kompetenz nach Brüssel, das heißt der Befugnis, selbst zu entscheiden, welche Kompetenzen man an sich ziehen will. All das sind Veränderungen von größter Bedeutung, denn sie zielen auf den Abbau der Souveränität der EU- Mitgliedstaaten. Aber die Wähler, die das Grundgesetz als den eigentlichen Souverän ansieht, dem die Regierenden und die Parteien Rechenschaft schulden und der das, was sie tun, billigen oder verwerfen kann, wird dabei völlig übergangen; er wird nicht einmal darüber informiert, was mit den Rechten geschieht, die er Bundestag  und Regierung übertragen hat. Dieser Vorgang ist bereits weit vorangeschritten. Es blieb Altbundespräsident Roman Herzog überlassen, darauf hinzuweisen, daß inzwischen schon mehr als achtzig Prozent aller Gesetze, die der Bundestag beschließt, nicht auf Initiativen der deutschen Verfassungsorgane zurückgehen, sondern auf die der EU. 

Das heißt, der Bundestag vollzieht wie eine nachgeordnete Behörde das, was die Kommission ihm vorgibt?

Feldmeyer: So ist es. Das Grundgesetz gestattet ja ausdrücklich die Verlagerung von Zuständigkeiten auf die EU. Wichtig ist aber nicht nur die Frage  nach Inhalt und Umfang solcher Kompetenzübertragungen, sondern ebenso die Frage danach, wie dies geschieht: unter Einbeziehung der Wähler, also der Öffentlichkeit, oder unter ihrem Ausschluß. Alarmierend ist für einen Demokraten, daß letzteres der Fall ist. Die Öffentlichkeit in Deutschland erfährt in der Regel nichts von alledem. Diskussionen des Bundestages gibt es dazu nicht, weil sich alle Parteien darin  einig sind, das Volk außen vor zu lassen, da dessen Beteiligung die Dinge komplizieren könnte. Wir sind dabei, in so wichtigen Bereichen wie der Europapolitik de facto zu einer Demokratie ohne Demos – ohne Volk also – zu werden, und das ist ein Widerspruch in sich selbst und stellt die Demokratie auf den Kopf, pervertiert sie also.

All das lasten Sie der Union an?

Feldmeyer: Nicht nur ihr. Alle Bundestagsparteien – ausgenommen die Linke – haben daran Anteil. Aber die CDU in erster Linie. Wahlen sind nur dann  Wahlen im eigentlichen Sinne, wenn der Souverän – also das Volk – nicht nur zwischen Parteinamen, sondern auch  zwischen unterschiedlichen Sachpositionen entscheiden kann. Wenn ich aber einen Wahlkampf auf dem Niveau von „Wir haben die Kraft“ führe, dann sinnentleere ich eine Wahl und leiste damit der Entpolitisierung der Wahlberechtigten Vorschub. Wer nach den Gründen sinkender Wahlbeteiligung sucht – hier kann er fündig werden.

Kühn: Ich stimme Karl Feldmeyer erneut zu: Längst steht unser ganzes Parteiensystem auf dem Prüfstand. Der Grund dafür ist in der Tat, daß die wahren Probleme, die zum Beispiel in der Demographie, in der Migration und – wie Karl Feldmeyer eben schon ausgeführt hat – in der Europa-Politik liegen, gar nicht mehr diskutiert werden.

Sondern?

Kühn: Sondern man führt Scheindiskussionen. Denn die Probleme des Arbeitsmarktes, der sozialen Sicherungssysteme und der öffentlichen Verschuldung lassen sich zum Beispiel ohne eine ehrliche Auseinandersetzung in den Fragen Bevölkerungswachstum und Masseneinwanderung in Zukunft gar nicht seriös lösen. Aber diese Politikfelder sind schwer ideologisiert und damit tabuisiert. Das alles hat dazu geführt, daß heute das ganze Parteiensystem unglaubwürdig erscheint, auch wenn die Leute im Zug des Wechselwählens versuchen, mal hier und mal dort eine Veränderung herbeizuführen. Ich bin mir sicher, im Grunde sind sogar die Wähler, die uns als die überzeugtesten bei dieser Bundestagswahl erscheinen – nämlich jene, die sich entschieden haben, diesmal der FDP statt Frau Merkel ihre Stimme zu geben –, im Grunde auch ratlos, wie es denn in diesem Parteiensystem weitergehen soll. Und ich kann meiner Partei nur dringend raten, sich nicht darauf zu verlassen, daß dieses Wahlergebnis ein Resultat ist, auf das sie auch in Zukunft bauen kann.

Feldmeyer: Mir erscheint es fraglich, ob es der Union gelingen wird, die vor allem wirtschaftlich motivierte Wählerschicht, die zur FDP abgewandert ist, in Zukunft wieder zurückzugewinnen. Wie sich diese Wähler in Zukunft verhalten werden, wird spannend.

Kühn: Das ist richtig. Was ich betonen möchte, ist, daß keineswegs nur die beiden großen Parteien in einer fragilen Situation sind, sondern auch die drei kleinen, obwohl sie sich im Moment ob ihrer Resultate vom Wahlsonntag als Sieger fühlen können. Auch sie sind von dieser Krise bedroht. Denn auch sie verlieren tendenziell Mitglieder, auch sie stehen dem Phänomen hilflos gegenüber, daß die Wahlbeteiligung seit dreißig Jahren kontinuierlich zurückgeht und am vorletzten Sonntag mit 70,8 Prozent einen vorläufigen Tiefststand erreicht hat. Auch sie können nicht verhindern, daß die Prozente für die sogenannten „Sonstigen“ steigen, bei dieser Wahl um 2,1 Prozent. Das hört sich nicht viel an, ist aber im Vergleich zur Bundestagswahl 2005 eine Steigerung um gut dreißig Prozent: Wären die „Sonstigen“ eine Partei, säßen sie mittlerweile mit sechs Prozent im Bundestag! Und dazu kommen 1,5 Prozent ungültige Stimmen, deren Zahl sich im genannten Zeitraum immerhin auch knapp verdoppelt hat. Das sind zusammen 37,5 Prozent der Wähler, die nicht mehr von unserem politischen System repräsentiert werden. Und damit ist diese Fraktion die mit Abstand stärkste „Partei“ der Wahl. Denn selbst die Union als „Stimmkönigin“ unter den Etablierten hat nur 33,8 Prozent erzielt.

Was folgt daraus?

Kühn: Die erste Frage ist, wie viele dieser Wähler sich für eine echte politische Alternative mobilisieren lassen würden. Die zweite Frage, wie viele davon für eine konservative Alternative.

Nämlich?

Kühn: Das vermag ich nicht zu sagen, aber ich hoffe sehr, daß so etwas wie in Österreich irgendwann auch in der Bundesrepublik möglich ist, nämlich eine Bündelung der konservativen und nationalen Kräfte.

Herr Feldmeyer, hat Herr Kühn recht?

Feldmeyer: Ich bin da eher skeptisch.

Herr Kühn, wie kommen Sie zu Ihrem Optimismus?

Kühn: Weil auf jeden Fall genügend Konservative und Nationale unter den Nichtwählern sind. In der gegenwärtigen Situation neigen sehr viele von ihnen dazu, nicht zu wählen.

Herr Feldmeyer, sehen Sie das auch so?

Feldmeyer:  Ich glaube, daß es eine ins Gewicht fallende Zahl von Wählern mit konservativer Prägung gibt, die der Wahl ferngeblieben sind, weil sie mit dem, was ihnen die Parteien anbieten, nicht einverstanden sind.

Warum sind Sie dann skeptisch?

Feldmeyer: Nach meiner Einschätzung entsteht eine neue Partei aus einer inneren Dynamik. Ein Gründungsbeschluß reicht dafür nicht. Für eine derartige Dynamik sehe ich aber keine Anzeichen.

Wie können Sie so sicher sein, daß überhaupt noch eine Chance besteht? Bekanntlich zerfallen die politischen Milieus, es wäre also auch möglich, daß diese konservativen Wählerschichten inzwischen einfach nicht mehr existieren.

Feldmeyer: Wie kommen Sie dazu, mir zu unterstellen, ich sei sicher. Das Gegenteil ist richtig, ich zweifle. Diesmal hatten wir 1,5 Prozent ungültige Stimmen, aber 27,2 Prozent Wahlverweigerer. Darunter befinden sich Unpolitische, Gleichgültige, solche, die zu faul sind, zur Wahl zu gehen, und solche, die aus Protest und Unzufriedenheit zu Hause bleiben, aber politisch motiviert sind. Zu klären, wie viele Nichtwähler zu den einzelnen Gruppen gehören, ist eine lohnende Aufgabe für Demoskopen.

Warum gelingt es nicht, auf diesem Potential eine rechte Wahlalternative aufzubauen?

Kühn: Weil es dazu der richtigen Umstände bedarf.

Feldmeyer: Der Begriff „rechts“ mißfällt mir. Der ist vieldeutig. Ich rede von konservativ. Das bedeutet, den Rechtsstaat und die Demokratie sowie die Institutionen, Tugenden und Prinzipien zu erhalten und gegen Anfeindungen zu verteidigen, die sich bewährt und Deutschland stark gemacht haben. Rechts kann auch totalitär meinen, und das ist zu ächten. Aber zur Sache: Kühn hat recht, für das Entstehen neuer Parteien muß die Zeit reif sein. Das ist sie bisher offenkundig nicht.

Warum nicht, wenn das enttäuschte Wählerpotential nach Ihrer Ansicht bereits vorhanden ist?

Feldmeyer: Die Konservativen haben in Deutschland zwei Probleme: Erstens stehen sie unter „Rechtsverdacht“, im Sinne einer angeblichen Affinität zum Dritten Reich. Das ist falsch und widerlegbar bis hin zum konservativen Widerstand gegen Hitler, ändert aber nichts am bestehenden Vorurteil. Zweitens fehlen  Führungspersönlichkeiten, die für diese Gruppe sprechen könnten.

Warum finden sich solche nicht? Etwa unter den engagierten und sich der Probleme bewußten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens wie Arnulf Baring, Udo di Fabio, Hans-Olaf Henkel oder Friedrich Merz?

Feldmeyer: Das müssen Sie die Genannten schon selbst fragen. Ich weise nur darauf hin, daß Baring, di Fabio und Henkel keine aktiven Politiker sind. Merz hat der Politik den Rücken gekehrt, nachdem er den Machtkampf gegen Frau Merkel verloren hatte. Im übrigen: Das wäre kein Zuckerlecken und man kann niemandem verargen, wenn er sich nicht für eine solche Aufgabe zur Verfügung stellt.  

Kühn: Und Merz war zudem in dieser Frage auch nicht bereit zu kämpfen.

Warum funktioniert das Parteiengründen durch engagierte, prominente Seiteneinsteiger im Ausland? Denken Sie an Pim Fortuyn, Silvio Berlusconi oder den britischen TV-Moderator Robert Kilroy-Silk, der zeitweilig das Zugpferd der U. K. Independence Party war?

Kühn: Die Frage ist gut, man kann sie aber nicht beantworten.

Warum nicht?

Kühn: Es handelt sich wohl eine Dekadenzerscheinung. Man ist bei uns nicht mehr bereit, sich derart zu exponieren, wie es dafür nötig wäre. Auch die meisten der wenigen verbliebenen Konservativen in der Union sind ja keine Kämpfer.

Herr Feldmeyer, was meinen Sie?

Feldmeyer: In allen diesen Ländern besteht eine viel größere innere Freiheit als hier, seine Meinung zu äußern und sich als Konservativer zu positionieren. Dafür gibt es einen Grund: Ihnen blieb das Dritte Reich erspart.

Das heißt, die CDU kann also in Zukunft ihren Kurs widerstandslos fortsetzen?

Feldmeyer: Ob widerstandslos, das bleibt abzuwarten; aber im Grunde  heißt die Antwort ja. Sehen Sie sich das Ergebnis vom Wahlsonntag an: Konservative spielen da keine Rolle!

Kühn: Das kann sich aber auch ändern. Ich sage nicht, daß es so kommen muß, aber es kann. Wenn zum Beispiel erst einmal die katastrophalen Konsequenzen unserer tatsächlichen Finanzlage voll durchschlagen, kann die Bewußtseinslage der Wähler sogar schlagartig wechseln. Ich rechne damit, daß in etwa zwei Jahren die Regierung anfangen wird zu versuchen, der Schuldenfalle durch Inflation zu entkommen. Es wird sehr spannend, zu sehen, wie die Leute darauf reagieren. Ich sage ausdrücklich: Ich weiß nicht, wie, aber ebenso sicher weiß ich, daß dann nichts ausgeschlossen sein wird.

Herr Kühn, gibt es kein Mittel gegen die von Herrn Feldmeyer genannte Faschismus-Keule als eines der Haupthindernisse für eine konservative Alternative? 

Kühn: Interessant ist ja, daß die Union nicht immer auf dieses Mittel gesetzt hat. Bis zum Auftauchen der NPD 1964 hat die CDU einen ganz anderen Weg beschritten. Bis dahin verfolgte sie die Strategie, alle erfolgreichen Konkurrenten wie den BHE, den Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten, oder die Deutsche Partei, die beide im Bundestag vertreten waren, zu integrieren. Erst seit der Konkurrenz durch die NPD – die damals aber noch eine andere Partei war als die weitgehend ins Sozialistische abgedriftete NPD von heute – setzt die CDU konsequent auf Ausgrenzung, Verfemung und möglichst Vernichtung angeblich rechter Konkurrenz. Das hat jedoch verhängnisvolle Folgen: Während die teilweise Übernahme von BHE und Deutscher Partei wenigstens noch dazu geführt hat, daß sich eine Stärkung des konservativen Flügels ergab, hat die Strategie der Ausgrenzung und Vernichtung dazu geführt, daß die Union schließlich immer weiter ins Fahrwasser des „Kampfes gegen Rechts“ geraten ist.

Heute ist der „Kampf gegen Rechts“ auch ein Kampf der Union.

Kühn: So ist es. Und auch das blieb nicht ohne Auswirkung auf den eigenen rechten Flügel, nur daß der jetzt keine Stärkung, sondern eine vermehrte Auszehrung erfährt. Allerdings bin ich skeptisch, daß sich die Union damit langfristig einen Gefallen tut, denn seitdem ist die Rechte politisch heimatlos. Und für die entsprechenden Wählerschichten bleibt nur noch der Abgrund.

Blickt man auf die SPD, scheint die Strategie der Union allerdings die richtige zu sein: Die Sozialdemokraten stehen heute ob der nicht verhinderten Aufspaltung des linken Lagers in mehrere Parteien vor einem Wahldesaster mit nur noch 23 Prozent und sehen eventuell ihrem Ende als Volkspartei ins Auge.

Kühn: Richtig ist, daß die Union immer wieder erfolgreich war, insofern sie meist an der Macht geblieben ist. Aber die Konzentration auf diese reine Machtoption könnte sich bald als Verhängnis erweisen. Denn die Partei steht dennoch vor dem Problem, daß sie eine zunehmende Zahl von Wählern nicht mehr binden kann. Seit der Wiedervereinigung hat die Union bis zum letzten Wahlsonntag Stück für Stück ziemlich genau zehn Prozent verloren. Noch einmal zehn Prozentpunkte und auch sie ist in der Situation, wie die SPD jetzt. Nach meiner Ansicht ist das ein Problem, das eine Bundeskanzlerin nicht ignorieren kann, nur weil für die nächsten vier Jahre ihre Kanzlerschaft gesichert ist.

Der Europaabgeordnete und niederbayerische CSU-Chef Manfred Weber hat ein Programm für eine „christlich-konservative Erneuerung“ der Partei vorgestellt. Könnte es auch zu einer konservativen Renaissance innerhalb der Union kommen?

Feldmeyer: So ehrenwert das Ansinnen des Herrn Weber sein mag, man kann konservative Werte nicht durch Beschluß schaffen. Sie wachsen und sind im Lebensgefühl der Menschen vorhanden – oder eben nicht vorhanden; so wie es heute für fast alle wichtigen Politiker zutrifft. In der CDU reicht das Abbröckeln konservativer Haltungen bis in die siebziger Jahre zurück, als Helmut Kohl Unions-Fraktionsvorsitzender im Bundestag wurde. Sein Generalsekretär Heiner Geißler verkündete damals für die CDU die Ablösung der sogenannten  „harten“ Themen wie der Deutschland- oder der Sicherheitspolitik durch „weiche“ Themen, etwa die Förderung des Kindergelds. Damals begann der Einflußverlust des konservativen Flügels in der CDU.

Warum sollte die Union den Konservatismus nicht wieder „erlernen“ können?

Feldmeyer: Ich will nichts ausschließen, aber Helmut Kohl ließ Heiner Geißler deshalb so lange gewähren, weil er erfolgreich war. Damals gewann das wahltaktische Denken in der CDU den Vorrang vor allen anderen Aspekten. Unter Merkel hat sich diese Haltung verstärkt.

Also ist Merkel nicht, wie viele Konservative meinen, die Falsche an der Spitze der richtigen Partei, sondern exakt die Verkörperung ihrer Partei?

Feldmeyer: Das können Sie so formulieren. Ich plädiere hier nicht für eine Prinzipienpolitik ohne Rücksicht auf die Erfolgschancen. Mir geht es darum, deutlich zu machen, was sich verändert hat: Worum es geht, ist die Frage, was eine Partei um des Erfolgs, des Machterhalts willen zu tun und zu lassen bereit ist, selbst wenn dies gegen ihre bisherigen Prinzipien verstößt. Macht man alles – wie es beispielsweise bei Kohls Spendenskandal 1999 geschah –, oder wo zieht man Grenzen? Steht man für etwas ein, ist man bereit, für seine Überzeugung zu kämpfen, ja hat man überhaupt eine Überzeugung? Oder ist man nur um des eigenen Erfolgs, der eigenen Karriere wegen in die Politik gegangen? Nach dem Zweiten Weltkrieg war das keine Frage; heute schon.

Herr Kühn, könnten sich im Zuge der Sozialdemokratisierung und Multikulturalisierung der Karriere-CDU nationalgesonnene Bürger, ebenso wie jetzt die Wirtschaftsorientierten, wieder in der FDP sammeln?

Kühn: Denkbar ist das natürlich, aber ich befürchte, selbst wenn sich so eine Entwicklung ergeben sollte, greift doch wieder der Vorwurf, nationalliberal sei gleich rechts und rechts gleich rechtsextrem, und führt dazu, daß alle, die in der FDP Politik in dieser Richtung machen wollen, der Mut verläßt. Es hat diesen Versuch ja schon einmal in den neunziger Jahren gegeben, und er ist gescheitert. Und für die Gegenwart muß man feststellen: Zum jetzigen Zeitpunkt ist das nationalliberale Projekt in der FDP mausetot. Wenn, dann sprechen wir über eine Entwicklung, die sich in Zukunft erst noch ergeben müßte.

Wieviel bürgerlicher Impuls liegt denn tatsächlich in den Wechselwählern, die der FDP am Wahlsonntag zu diesem Traumergebnis verholfen haben?

Kühn: Da darf man sich keine Illusionen machen, ganz überwiegend haben diese Wähler aus wirtschafts- und finanzpolitischen Motiven heraus gewählt. Was ich gar nicht abtun möchte, denn das sind wichtige Themen. Aber diese Wähler sind wenig gesellschafts- und überhaupt nicht nationalpolitisch motiviert gewesen. Sicher, die Zukunft hält immer alle Chancen bereit, und ich glaube, daß es grundsätzlich ein nationalliberales Wählerpotential von 15 bis 20 Prozent gibt. Aber ich bin nicht zuversichtlich, daß es gelingen könnte, dieses über die FDP zu mobilisieren, zumal die Partei jetzt nach dem Wahlsieg erst recht keinen Grund sieht, ihren Kurs zu modifizieren. 

Was ist zum Beispiel mit Wolfgang Kubicki in Kiel oder Holger Zastrow in Dresden?

Kühn: Das sind Leute, die durchaus bereit sind, mal auf dieser Klaviatur zu klimpern, aber wohl nicht, wirklich darauf auch einen Choral zu spielen.

Herr Feldmeyer, was, wenn Herr Kühn recht behält und auch die FDP die konservative Sache nicht retten will?

Feldmeyer: Dann bleibt die Situation so, wie sie ist. Dazu gehört, daß die wirklich entscheidenden Probleme für die Zukunft dieses Landes allenfalls moderiert, aber nicht gelöst werden. Dazu zähle ich an erster Stelle die Vergreisung und das seit nunmehr fast fünfzig Jahren anhaltende Geburtendefizit, die Bildungsdefizite im Zusammenhang mit dem, was wir zurückhaltend als Randgruppen- und Ausländerproblematik umschreiben und was die Leistungsfähigkeit der nächsten Generation und damit ihren Wohlstand in Frage stellt. Dazu zähle ich aber auch die Lage unserer Staatsfinanzen. Der Bundeshaushalt wird bereits jetzt zu siebzig Prozent durch Sozialleistungen und die Zinsen für die Schulden des Bundes aufgezehrt. Dieses Geld fehlt auch dazu, eine Familienpolitik zu finanzieren, die ernsthaft versucht, die Geburtenrate von 1,3 Kindern drastisch zu erhöhen, um der Vergreisung des deutschen Volkes entgegen zu wirken. Wenn es jetzt in den Koalitionsverhandlungen auch um die Finanzen geht, dann richten sich die Erwartungen auf Steuersenkungen, nicht auf den Abbau der Schulden.

Warum geschieht das nicht?

Feldmeyer: Weil die maßgebenden Politiker und alle diejenigen, die die öffentliche Meinung beeinflussen kurzfristig denken und rasche Erfolge für wichtiger erachten als eine Politik der Nachhaltigkeit. Man sollte die Politiker bei Förstern in die Lehre schicken. Die wissen, daß sich das, was sie heute tun, über Generationen hin auswirkt und daß sie für diejenigen verantwortlich sind, die nach ihnen kommen. Das geht nicht ohne die Wiedergewinnung eines Gefühls der Wertschätzung für das eigene Volk. Es geht darum, sich ohne Hybris und ohne Selbstverleugnung des eigenen Werts bewußt zu sein und entsprechend zu handeln. Eine politische Klasse, die dem eigenen Volk mit heimlicher Antipathie, Mißtrauen, ja Angst gegenübersteht, ist dazu kaum in der Lage. Das Grundgesetz verpflichtet diejenigen, die ihren Eid auf es leisten, dazu, „Schaden von ihm abzuwenden“. Das ist keine Floskel, sondern eine Verpflichtung. 

Kühn: Ich kann Karl Feldmeyer nur erneut ganz und gar zustimmen. Mein Parteivorsitzender Guido Westerwelle hat ja am Wahlabend formuliert, er wolle in Zukunft in der Koalition „für unser Volk“ arbeiten. Ich frage mich nur, was er darunter versteht. Meint er, wie das Grundgesetz, wirklich das deutsche Volk, oder meint er, wie Angela Merkel, „die Menschen in unserem Lande“?

Wahrscheinlicher als eine konservative Alternative ist allerdings die Ablösung der Koalition durch einen Linksblock 2013.

Kühn: Das kann man nicht ausschließen, aber wenn es eine echte linke Politik sein sollte, die dieses Bündnis hervorbringt, dann wird unser Ende ähnlich sein wie das Ende der DDR. Nur mit dem Unterschied, daß es dann keinen geben wird, der uns auffängt.

Herr Feldmeyer?

Feldmeyer: Nichts von dem, was die Bundesrepublik ausmacht, ist garantiert, weder die bürgerlich-demokratische Gesellschaftsform noch die Rechtsstaatlichkeit, noch etwa die Westbindung, also alles das, was wir heute zumeist für selbstverständlich halten. All das hat nur so lange Bestand, wie es die Mehrheit in diesem Land bejaht und bereit ist, die für seinen Erhalt notwendigen Anstrengungen zu akzeptieren. Anstrengungen sind nicht bei allen populär, aber notwendig. Vielleicht hilft es ja, daran zu erinnern, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist.

„Und wo bleibt das Positive?“ fragt Kurt Tucholsky.

Kühn: Nun, bekanntlich kommt es erstens anders und zweitens als man denkt. Nein, Spaß beiseite: Das ganze Parteiensystem ist heute zweifellos wesentlich labiler als noch vor zehn oder zwanzig Jahren. Das müßte auch Auswirkungen haben! Und vielleicht ausnahmsweise auch mal zum Besseren, warum nicht?    

 

Karl Feldmeyer, der Journalist war von 1976 bis 2004 Parlamentskorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zunächst in Bonn, dann in Berlin. Außerdem war er als Experte zuständig für die Berichterstattung über die CDU/CSU sowie für deutschland- und sicherheitspolitische Fragen. Zweimal, 1978 und 2006, wurde er mit dem renommierten Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet, zuletzt für sein Lebenswerk. Geboren wurde Feldmeyer 1938 in Mindelheim.

 

Detlef Kühn, der Jurist war ab 1966 in der FDP-Bundestagsfraktion zuständig für Außen-, Deutschland- und Verteidigungspolitik. 1970 wechselte er als Persönlicher Referent ins Bundesinnenministerium und 1972 ins Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, wo er bis zur Auflösung der Behörde Ende 1991 Präsident des Gesamtdeutschen Instituts – Bundesanstalt für gesamtdeutsche Aufgaben war. Geboren wurde Kühn 1936 in Potsdam.

 

Fotos: Berlin, Bundeskanzleramt, Guido Westerwelle (l.) und Angela Merkel am Tag nach der Wahl: „Die CDU hat immer mehr Positionen der Linken übernommen und so die ihren Wählern gegebenen Versprechen gebrochen“, CDU-Chefin Merkel, FDP-Chef Westerwelle: „Die Frage ist, geht es um Überzeugungen oder nur um den eigenen Erfolg“, Der Nationalliberale und der Konservative – Detlef Kühn und Karl Feldmeyer (rechts) im Gespräch: „37,5 Prozent der Wähler werden von unserem politischen System bereits nicht mehr repräsentiert“

 

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