© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/09 09. Oktober 2009

Die DDR läßt grüßen
Prügel für den Dissidenten: Die Kampagne gegen Thilo Sarrazin soll das Volk disziplinieren
Thorsten Hinz

Soviel Aufmerksamkeit hat das elitäre und teure Magazin Lettre international wohl noch nie erfahren wie jetzt durch das Interview mit Thilo Sarrazin, Vorstand der Bundesbank, ehemaliger Berliner Finanzsenator und erfolgreichster Landespolitiker der Hauptstadt wenigstens seit 1990. Das Kesseltreiben gegen ihn setzt den üblichen Kampagnenjournalismus fort und markiert doch – angesichts der Brisanz, die die von Sarrazin angesprochenen Probleme inzwischen erreicht haben – eine neue Qualität.

Je nach Ausgang könnte es sich für die Bundesrepublik zu einem vergleichbaren Menetekel entwickeln wie die staatliche Pressehetze gegen den DDR-Liedermacher Wolf Biermann nach dessen Konzert 1976 in Köln. Biermann hatte von einem strikt sozialistischen Standpunkt aus den Zustand der DDR kritisiert, worauf das SED-Politbüro ihn ausbürgerte und die Staatsmedien furiengleich über ihn herfielen. Geschichtlich gesehen vergab die DDR so ihre letzte Chance, eine realistische Staatsidee zu entwickeln und damit einen würdevollen Beitritt zur Bundesrepublik vorzubereiten.

Angesichts von CIA-Prognosen, die für 2020 schwere ethnische Konflikte in Mitteleuropa voraussagen, erscheint ähnliches auch auf der Zeit­ebene als eine realistische Perspektive. Die meisten Politiker und Journalisten, die nun hysterisch reagieren, kennen das gedanken- und faktengesättigte Interview überhaupt nicht oder sind von ihm überfordert. Wenn Sarrazin das Versagen des Politik-, Presse- und Wohlfahrtsbetriebs insbesondere am Ausländerproblem festmacht, das – wie überall – in Wahrheit ein Moslemproblem ist, dann deckt sich das mit den Alltagserfahrungen der überwältigenden Mehrheit der Bürger. Seine inkriminierten Formulierungen sind eingebettet in eine differenzierte und komplexe Argumentation. Sarrazin würdigt die Bildungserfolge der Vietnamesen, Chinesen, Inder, der Osteuropäer und Rußlanddeutschen, die einen höheren Abiturienten- und Studentenanteil aufwiesen als die Einheimischen. Die Türken, Araber und bestimmte Ex-Jugoslawen aber legten in der Regel eine „aggressive und atavistische“ Mentalität an den Tag, deren Regenerierung vom deutschen Sozialsystem noch gefördert würde.

Die brisanteste Interview-Passage, die die Kampagne überhaupt erst ausgelöst haben dürfte, wird in vielen Pressemeldungen ausgespart. Darin berichtet Sarrazin über einen Türkei-Besuch 1978, bei dem ihm ein türkischer Staatssekretär stolz erläuterte, daß die Türkei die Bevölkerungszahl der Deutschen bald einholen werde. Diese Äußerung setzt Sarrazin in Beziehung zu der berüchtigten Rede des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan, der im Februar 2008 eine Assimilierung der Türken in Deutschland als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bezeichnete: „Das ist dieselbe Mentalität, die Erdoğan dazu verleitet hat, diese Rede in der Kölnarena zu halten. Die Türken erobern Deutschland genauso, wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben: durch eine höhere Geburtenrate. Das würde mir gefallen, wenn es osteuropäische Juden wären mit einem um 15 Prozent höheren IQ als dem der deutschen Bevölkerung.“

Mit diesen Sätzen hat Sarrazin die Grenzen dessen gesprengt, was in dieser Republik denk- und sagbar ist. Selten hat ein prominenter Angehöriger der politischen Klasse so klar auf den Zusammenhang zwischen verfehlter Zuwanderung, sinkenden Bildungsstandards, der Krise der Sozialsysteme und der Haltlosigkeit der Integrationsrhetorik verwiesen. Wo das Verständnis von Politik und Geschichte sich in sozialem Machbarkeitswahn auflöst, gerät der Hinweis auf kulturelle Unterschiede und auf die demographischen und kulturellen Ursache von Kriegen automatisch zum Skandal. Zugleich hat Sarrazin klargestellt, daß wirtschaftlicher Erfolg und sozialer Status auch mit dem ererbten IQ korrelieren – ein unverzeihlicher Verstoß gegen die Gleichheitsideologie!

Es fällt auf, daß kein Sarrazin-Kritiker die sachliche Auseinandersetzung wagt. Wenn der türkischstämmige Unternehmer und SPD-Europaabgeordnete Vural Öger, von dem der Satz überliefert ist: „Das, was Sultan Süleyman mit der Belagerung Wiens 1683 begonnen hat, werden wir über die Einwohner, mit unseren kräftigen Männern und gesunden Frauen, verwirklichen“, den Ausschluß Sarrazins aus der SPD fordert, ist das ein Treppenwitz, aber auch Ausdruck wachsenden Machtgefühls.

Die – weisungsgebundene – Staatsanwaltschaft ermittelt unterdessen wegen möglicher „Volksverhetzung“. Das weckt Erinnerungen an die DDR, wo es einen ganzen Strauß vergleichbarer Paragraphen gab: „Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen“, „Bekundung von Glaubens-, Rassen-, Völkerhaß“, „staatsgefährdende Propaganda und Hetze“, „Staatsverleumdung“, „staatsfeindliche Hetze“, „Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit“, „ungesetzliche Verbindungsaufnahme“ zum Klassenfeind. Durchweg handelte es sich um Gummiparagraphen, die Kritiker einschüchtern, eine eigenständige politische Reflexion unterbinden und ihre Veröffentlichung kriminalisieren sollten. Denn noch die kleinste und bestgemeinte Kritik verwies auf die Brüchigkeit des Ganzen. Die Ursache dafür lag in der Schwäche und angestrengten ideologischen Künstlichkeit des DDR-Systems selbst.

Um keine gegenläufige Hysterie zu propagieren: Die Zustände in der Bundesrepublik sind bei weitem nicht mit denen in der DDR vergleichbar, jedoch hat eine Entwicklung in Richtung „DDR light“ Fahrt aufgenommen. Die Kampagne gegen Sarrazin führt den Umbau des öffentlichen Raums in einen Bezirk fort, der nach dem Prinzip des vorauseilenden Gehorsams funktioniert. Die aktuelle Disziplinierung gilt dem Demos, sie widerspiegelt aber auch eine Eigendynamik innerhalb der politisch-medialen Klasse selbst. Indem sie den Dissidenten aus den eigenen Reihen prügelt, stellt sie ihre Geschlossenheit wieder her.

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