© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/09 25. September 2009

Das Aufhören der Angst
Das herbstliche Prag im Jahr 1989, wo sich die Lage an der bundesdeutschen Botschaft zuspitzte / Ein Reisebericht
Karlheinz Weissmann

Der Herbst 1989 war schön, spätsommerlich warm, lichtdurchflutet. Man sieht das noch auf den alten Filmaufnahmen und Fotos, deren Farben sich allmählich zersetzen. Aber die Erinnerung trügt, wie so oft, Anfang September hatte es in Strömen geregnet, nur Ende des Monats schien die Sonne wieder, das mitteleuropäische Leben spielte sich draußen ab. Es war auch ideale Ausflugszeit, Reisezeit.

Als meine damalige Schule die Abschlußfahrten plante, konnte das natürlich niemand ahnen, so wenig wie die politischen Turbulenzen im Vorfeld der „Wende“. Prag hatte man als Ziel gewählt, weil es attraktiv und preiswert war, große Kultur, Hotelunterbringung und die privilegierte Existenz von Leuten mit harter Währung in einem kommunistischen Land. Die Schüler interessierte das weniger, die lockte das Nachtleben auf den Moldaubrücken oder die Aussicht auf sehr preiswertes Originalpilsener. Ansonsten waren die Vorstellungen dürftig, immerhin soviel wußten die meisten: Prag lag „im Osten“, dazwischen die DDR und zwei lästige Grenzkontrollen, „im Osten“ gab es keine Hamburger, keine Cola (gab es dann doch) und keine Ersatzbatterien für den Walkman, falls man so dumm gewesen war, ohne Vorrat loszufahren.

Die Kenntnislücken wurden vor Ort relativ rasch gefüllt. Das hatte mit unserem Reiseführer zu tun, einem älteren Herrn, der sich als Stadtbilderklärer über Wasser hielt, weil er 1968 beim „Prager Frühling“ dabeigewesen und deshalb mit Berufsverbot für seine eigentliche Profession – Tierarzt – belegt worden war. Er hatte einen tschechischen Namen, wollte von uns aber nur „Gottlieb“ genannt werden, sprach perfekt Deutsch und konnte Karten für ausverkaufte Eishockeyspiele und Opernaufführungen und Plätze im vorzüglichen Restaurant des Prager Hilton besorgen, hielt nützliche Ratschläge in bezug auf den Umgang mit Taxifahrern und den Zigeunern an den Flußufern bereit. Das alles machte ihn sympathisch, wich aber nicht von bekannten Mustern ab. Wer damals in einen Ostblockstaat fuhr, begegnete regelmäßig diesem Typus des findigen, hilfsbereiten, dabei natürlich nicht ganz selbstlosen Spezialisten für die Betreuung von Westreisenden.

Was allerdings sehr deutlich der Norm widersprach, war Gottliebs Art, eine Rundfahrt durch Prag zu leiten. Er begann mit den Worten: „Liebe junge Freunde, ich möchte euch in Prag, der schönen deutschen Stadt begrüßen, was ihr hier an wirklich bedeutenden Kunstdenkmälern und Bauwerken seht, wurde von Deutschen geschaffen.“ Und nachdem wir uns von der ersten Verblüffung erholt hatten und merkten, daß wir uns von der Altstadt entfernten, überraschte uns Gottlieb mit Anmerkungen zu einzelnen Gebäuden, dem Hauptquartier „unserer großen Mama“ – der Kommunistischen Partei –, einem Treffpunkt von Dissidenten der früheren Charta 77 und einem anderen Haus, in dem die Geheimpolizei einen oppositionellen Priester gefoltert und getötet hatte.

Wer bis dahin noch nicht begriff, wes Geistes Kind unser Reiseführer war, erfuhr das nach einem obligatorischen Vortrag, den wir zu den Vorzügen des tschechoslowakischen Bildungssystems hören mußten. Gottlieb wartete das Ende der Veranstaltung und den Weggang des Referenten ab, dann bat er uns, noch einen Moment im Hörsaal des Schulungszentrums zu bleiben und erklärte das mit dem Hinweis, daß man hier – im Hort der Linientreuen – relativ sicher sein könne, nicht abgehört zu werden.

Dann schaute er sich unter den Schülern um und fragte, an die Jungen gewandt: „Nun, wer von euch hat denn den Militärdienst verweigert, oder will es tun?“ Schnell hoben sich die Hände, einige grinsten, ein paar ganz selbstbewußt, ein paar verlegen. „Da“, so Gottlieb, „freut sich die ‘große Mama’ aber“; es war der einzige Fall, wo man ihm Unmut anmerkte, und fügte hinzu: „Das hat der große Verewigte – Franz Josef Strauß – doch ganz richtig gesagt: Ihr seid die nützlichen Idioten und liefert euer Vaterland dem Kommunismus aus.“ – Die Atmosphäre war so, daß niemand Einspruch erhob, keiner von den Jungen, die sich gemeldet hatten, kein Mitschüler und keiner von den Lehrern, die nur konzentriert auf ihre Schuhspitzen starrten.

Zu den hilfreichen Hinweisen Gottliebs gehörte auch, daß wir uns abends vom Wenzelsplatz fernhalten sollten, den die Miliz regelmäßig kontrollierte, und tags wie nachts vom Areal um die deutsche Botschaft, in die über Wochen immer mehr DDR-Flüchtlinge gekommen waren, die man längst nicht mehr im Gebäude unterbringen konnte, weshalb sie unter bedenklicher werdenden Umständen auf dem Gelände kampierten. Nachdem die tschechoslowakischen Behörden lange Zeit kaum etwas unternommen hatten, waren jetzt die Zugänge weiträumig gesperrt. Wenn man vom Burgberg des Hradschin die ungefähre Richtung der Botschaft ansteuerte, wurde man unweigerlich von Männern in Zivil begleitet und irgendwann von einem uniformierten Posten angehalten. Ganz gelang die Abschließung aber nicht. Seit dem August waren mehr als dreitausend Menschen in die Botschaft gekommen, lebten provisorisch in Zelten, die man im Garten des schönen Palais Lobkowitz aufgestellt hatte, weigerten sich – auch gegen die Zusage der DDR-Behörden, eine Ausreisegenehmigung zu erteilen – das Areal wieder zu verlassen, erhoben immer deutlicher und immer klarer Forderungen, die sie ungeduldiger werdend vortrugen.

Während der Woche, die ich im September 1989 in Prag war, haben sich mindestens zwei Dutzend DDR-Bürger an mich gewandt, die ihren Trabant oder Wartburg am Stadtrand zurückgelassen hatten und zu Fuß ins Zentrum gelaufen waren, um nicht angehalten zu werden. Sie übernachteten im Freien, versuchten der Miliz zu entgehen und sprachen bundesdeutsche Touristen an, in der Hoffnung, daß diese fremden Landsleute ihnen helfen würden. Wenn man sich mit ihnen unterhielt, waren die Gespräche kurz, die Motive, die sie nannten, immer dieselben. Alle hatten Angst, daß die Grenze vollständig geschlossen werden könnte, daß zu Hause eine neue Phase brutaler Repression bevorstehe oder ein neuer „17. Juni“ und daß die Bundesrepublik „wieder“ nichts unternehmen würde. Meistens war das Geld schon aufgebraucht, Prag war für DDR-Verhältnisse teuer, oder man wußte nicht, wie man zum Botschaftsgelände kommen sollte; meinen Stadtplan war ich schon nach zwei Tagen losgeworden.

Die Prager selbst schien das alles nicht besonders zu interessieren. Das Alltagsleben ging weiter, man schlug sich mit den Versorgungsengpässen herum, gelegentlich kam es zu Demonstrationen und zur Festnahme von Regimekritikern, aber kaum jemand hatte den Eindruck, am Vorabend einer Revolution zu stehen. Eher herrschte das Gefühl, daß sich das System zersetzte, daß an seiner Peripherie ein Prozeß des Verfalls begonnen hatte, unmerklich, aber nachhaltig. Schon die Kontrollen bei der Einreise waren erstaunlich lässig durchgeführt worden. Überall war die Korruption mit Händen zu greifen, die Angst vor Überwachung und Festnahme hatte dramatisch nachgelassen – trotz der Exzesse der Sicherheitskräfte in jüngster Vergangenheit –, einfache Bürger äußerten ihren Unmut ganz unverhohlen, und zwar nicht nur über die Wirtschaftslage, sie machten auch keinen Hehl daraus, daß man endlich Freiheit und Demokratie wolle, „wie bei euch“.

Wahrscheinlich war der Indikator, der am deutlichsten zeigte, was kommen würde, die Tatsache, daß in unserem Hotel als Musiktapete das Radioprogramm von „Bayern 3“ lief, unter Einschluß der Nachrichten, die im Stundentakt triumphierend meldeten, wie hoch der Stand der Flüchtlingszahlen in der Botschaft war. Niemand schritt dagegen ein, niemand fürchtete Denunziation oder Schlimmeres. Dieses Aufhören der Angst war wohl das deutlichste Zeichen dafür, was bevorstand.

Nach einer Woche, am 30. September, kehrten wir zurück. Gottlieb hatte uns noch überredet, die Route zu ändern. Wir fuhren mit ihm durch einen Teil des Vertreibungsgebietes im Sudetenland. Die Spuren der Verwüstung waren auch nach mehr als vier Jahrzehnten deutlich zu sehen, vor allem Häuserruinen, leerstehend. Und Gottlieb meinte noch, bevor er uns verließ: „Das fürchten wir Tschechen am meisten: daß wir für dieses Verbrechen an euch noch einmal büßen müssen.“ Am Abend waren wir wieder zu Hause. Als ich den Fernseher einschaltete, um die Nachrichten zu sehen, meldete die ARD, daß der Außenminister nach Prag gereist sei. Dann sah man die Bilder von Genscher auf dem Balkon, die Menschenmenge im Garten der abendlichen Botschaft und den Jubel, als er den freien Abzug verkündete. Ich erinnere mich noch gut an ein Gefühl, gemischt aus Erleichterung und Unglauben.

Fotos: Hans-Dietrich Genscher verkündet um 18.58 Uhr den etwa 4.000 Prager Botschaftsflüchtlingen: „Liebe Landsleute, – wir sind zu Ihnen gekommen, – um Ihnen mitzuteilen, – daß heute Ihre Ausreise ...“, DDR-Bürger klettern über eine Mauer auf das Gelände der bundesdeutschen Botschaft in Prag: Neuen „17. Juni“ befürchtet

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